Erst Griechenland, dann Irland, dann...

Joachim Bischoff / Richard Detje: Die Überlebenskrise der EU

23.11.2010 / www.sozialismus.de

Die Musik der Optimisten, die früh das Ende der Weltwirtschaftskrise verkündet hatten, klingt mittlerweile nach Pfeifen im Walde. Auch sie erleben gegenwärtig – nach dem Platzen der Immobilien- und Finanzmarktblasen, dem Absturz der Konjunktur und grassierender öffentlicher Verschuldung – Phase Fünf der Großen Krise: die Währungskrise.

Von einem »Währungskrieg« zwischen den USA, China und Japan war bereits im Vorfeld des G20-Gipfels in Seoul die Rede. Doch der am heißesten umkämpfte »Kriegsschauplatz« liegt derzeit in Europa. Kein geringerer als der EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy spricht von einer »Überlebenskrise«, in der sich die Europäische Währungsunion gegenwärtig befindet.

Während Griechenland – gegen das die erste Angriffswelle lief – als der bad guy der EU gilt, der sich den Zutritt zum Euro-Club durch jahrelange Manipulation seiner Haushaltszahlen erschlichen habe, galt Irland bis 2008 als Musterschüler: statt Schulden Haushaltsüberschüsse, dynamische Wirtschaftsentwicklung, wettbewerbsorientierte Niedrigsteuerpolitik – eben keltischer Tiger statt kränkelnder Leviathan.

Was in den Boomjahren erstrahlte, war jedoch eine vollkommen verselbständigte Entwicklung von Teilmärkten: ein spekulativ völlig überreizter Immobilienmarkt und eine davon befeuerte Bauindustrie, der Dubliner Bankenmarkt, der ähnlich wie die City of London als Zentrum einer »New Economy« gefeiert worden war, und ein geradezu magersüchtiger Wettbewerbsstaat, der Kapitalanleger mit einer Körperschaftsteuer von gerade noch 12,5% willkommen heißt. All das liegt – um bei der Kriegsmetaphorik zu bleiben – in Schutt und Asche.

Ende September 2010 legte die irische Regierung die vermeintliche Schlussabrechnung für die irische Bankenkrise vor: 50 Mrd. Euro müsse der irische Steuerzahler an Kapital bereitstellen, das sei das schwärzeste Szenario. Leider stimmte diese These nicht. Allein die Banken Anglo und Nationwide beanspruchen 40 Mrd. Euro – was etwa 130% der diesjährigen Staatseinnahmen entspricht. Dieses Geld ist für immer verloren, weshalb die EU ja auch darauf besteht, dass es als laufende Staatsausgabe in der Jahresrechnung 2010 figuriert. Daher beträgt die Neuverschuldung Irlands in diesem Jahr einmalig 32% des Bruttoinlandprodukts (oder: über 100% der Staatsausgaben).

Und der Wertberichtigungsprozess ist noch nicht zu Ende. Niemand weiß, wie groß die Ausfälle bei den privaten Hypothekenschuldnern letztlich ausfallen werden. Die Bank of Ireland unterstellt, die Talsohle sei bereits erreicht, aber die bevorstehende Schrumpfung des irischen Staates wird das verfügbare Einkommen verringern und mehr Haushalte in Schwierigkeiten mit ihren Zinszahlungen treiben.

Das aktuelle Haushaltsdefizit ist nach 14% im vergangenen Jahr auf ein Drittel des Output der irischen Wirtschaft (BIP) angestiegen. Die Mittel fließen direkt in die bereits zu Beginn der Krise zur Abwendung des Konkurses verstaatlichen Banken. Mittlerweile bürgt der irische Staat für die Rekordsumme von 350 Mrd. Euro – bei einem BIP, das noch nicht einmal die Hälfte der eingegangenen Verpflichtungen ausmacht (155 Mrd. Euro). Gegen die faulen– und angesichts weiter fallender Immobilienpreise in noch wachsendem Umfang verfaulenden – Kredite anzusparen, kommt Selbstmord aus Angst vor dem Tod gleich.

Im Angesicht der Immobilienkrise kürzte die Regierung bereits 2008 die öffentlichen Ausgaben – die Wirtschaft schrumpfte um 3%. Die verschärfte Austeritätspolitik beschleunigte 2009 den Absturz auf 7%. Und auch für das laufende Jahr stehen die Prognosen auf Minus. Die Bauwirtschaft liegt weiterhin am Boden, die private Nachfrage sinkt, und mit der astronomischen Verteuerung der Kredite stecken auch Unternehmen, die sich zumindest für einige Monate noch Zuwachsraten beim Export ausrechnen, in der Kreditklemme.

Laut der irischen Zentralbank hatten die Banken der Nation Ende Oktober Kredite über 130 Mrd. Euro bei der Europäischen Zentralbank (EZB) ausstehend. Bedenkt man, dass die EZB den Banken der gesamten Euro-Zone damals bei ihrem Hauptrefinanzierungsgeschäft gut 183 Mrd. Euro ausgeliehen und im Oktober zusätzlich noch längerfristige Geschäfte über weitere rund 370 Mrd. Euro ausstehend hatte, war die Nachfrage der irischen Banken nach EZB-Liquidität in der Tat beachtlich. Die Herausforderungen für die irischen Banken sind auch kein reines Liquiditätsproblem, sondern viel mehr eines einer zu geringen Kapitalbasis und damit mehr und mehr ein Solvenzproblem.

Vor diesem Hintergrund waren EU-Rat und -Kommission seit einigen Wochen klar, dass Irland und sein Bankensystem ohne Rettungsschirm nicht über die Runden kommen werden. Das Beharren der Regierung in Dublin, bis Mitte 2011 auf keine neuen Kredite angewiesen zu sein, war primär ein innenpolitisches Manöver: Vor einer Nachwahl zum Parlament noch im November und Neuwahlen im Mai kommenden Jahres gilt es, nationale Souveränität gegenüber demokratisch in keiner Weise legitimierten Sparkommissaren der EU und des IWF unter Beweis zu stellen.

Die Vergewisserung der Regierung in Dublin, bis »Mitte 2011« keiner neuen Liquiditätsspritzen zu bedürfen, stand zum einen unter dem Vorbehalt, dass sich keine neuen Defizite bei den Banken auftürmen – was allerdings sicher ist –, und dass die Europäische Zentralbank unverdrossen Geld nachschießt. Denn die Bürgschaften der irischen Regierung sind das eine; hinzu kommen die Gelder, die die EZB den Banken zu Verfügung gestellt hat. Allein die belaufen sich mittlerweile auf 83% des BIP. Das »quantitative easing« der US-Zentralbank – oft genug von den Gralshütern der neoliberalen Lehre in der EZB gegeißelt – ist wenn auch nicht Nichts, so doch wenig dagegen.

Die irischen Geldinstitute hängen am Tropf der EZB. Die Euro-Länder haben Irland »eher gedrängt«, den Schutzschirm zu beanspruchen, um Ruhe in die Märkte zu bringen. Die Unsicherheit über das weitere Verfahren mit der Schuldenproblematik Irlands sowie die neuerliche Zuspitzung der europäischen Schuldenkrise sorgen auf den Kapitalmärkten für deutliche Schwankungen.

Mittlerweile steht fest: Delegierte des Internationalen Währungsfonds (IMF), der Europäischen Zentralbank (EZB) und der EU-Kommission werden Vorschläge zur Aufhebung der Schwächen des irischen Bankensystems entwickeln und die Maßnahmen zur Verringerung des Budgetdefizits festlegen. Die EU hat ein großes Interesse daran, dass die Iren ihre finanzielle Situation wieder in den Griff bekommt. Zwei Drittel der Staatschulden liegen bei europäischen Banken. Den größten Batzen halten britische Banken. Deutsche Geldhäuser stecken mit 138,6 Mrd. Euro mit drin. Ein Bankrott hätte dramatische Auswirkungen.

Damit kommen wir zur institutionellen Rahmung der aktuellen Krise der EU: Die Verantwortung der EZB wird an die EU und den IWF weitergereicht. Nicht der Staat, sondern die Banken sind der Adressat der EU-Hilfe. Damit nicht die hart umkämpfte Souveränität der Republik aushebelt wird, werden die Banken mit ausreicheichender Liquidität versorgt: mit einem gegenüber bisherigen Ansprüchen nahezu halbierten Zinssatz von voraussichtlich rund 5%. Der Kapitalrahmen für die Rekapitalisierung der Banken wird gegenwärtig auf mindestens 60 Mrd. Euro geschätzt.

Mag sein, dass dies zu einer vorübergehenden Beruhigung der Finanzmärkte führt. Aber das ist mehr als ungewiss. Erstens droht Griechenland gerade wegen seiner Austeritätspolitik in einen Niedergangsstrudel gerissen zu werden. Denn es könnte durchaus sein, dass das Land die zugesagten Kredite für den Dezember 2010 zunächst nicht erhält, weil die Margen der zulässigen Staatsverschuldung nicht eingehalten wurden. Griechenland »spart« sich derzeit in die nächste Krise. Und nachfolgend fürchtet zumindest Portugal einen Flächenbrand. Danach stehen Spanien oder das von Neuwahlen erschütterte Italien auf der Spekulationsliste.

Van Rompoy hat Recht: Mit dem Euro wankt die gesamte europäische Statik. Aber nicht wegen unzureichender Austerität, die man den unter den Rettungsschirm flüchtenden Ländern aufherrscht. Das Euro-Regime war von vornherein eine Fehlkonstruktion. Denn die neoliberale Währungsunion war als Zwangsjacke gedacht, die eine realwirtschaftliche Angleichung herstellen sollte. Die Warnungen, dass dies exakt zum Gegenteil führen würde, wurden in den Wind geschlagen. Auch die Bilanz der so genannten Lissabon-Strategie dokumentierte eher das Scheitern transatlantischer wie innereuropäischer Angleichung denn die erhoffte Konvergenz. Die neoliberale Idee, dass aus einer Währungsunion per Konkurrenzregime eine Wirtschaftsunion entstehen würde, ist eine Schnapsidee. Das zeigte sich im Frühjahr in Griechenland, jetzt in Irland und morgen vielleicht in Portugal, Spanien, Italien...