Die „linksradikale“ Vergangenheit der CDU und ihre angebliche „Sozialdemokratisierung“

Von Friedhelm Grützner, Bremen

20.09.2010

Seit einiger Zeit wird in marktradikal-neoliberalen Kreisen geklagt, die CDU befinde sich in einem Zustand der „Sozialdemokratisierung“. Sie solle diesen Kurs stoppen und zu ihren „bürgerlichen“ Wurzeln zurückkehren. Gleichzeitig wird den LINKEN vorgeworfen, sie befänden sich mit ihrem Ziel einer grundlegenden Veränderung der derzeit herr­schenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes, was ihre Beobachtung durch den Verfassungsschutz recht­fertige.

Es ist schon erstaunlich, wie geschichtsvergessen die selbsternannten Bewahrer bür­gerlicher Politikvorstellungen sind. Denn eine marktradikale „bürgerliche“ CDU, welche sie sich aus der Vergangenheit herbeiphantasieren, hat es in dieser Form nie gegeben. In den 1950er und 1960er Jahren verfügte der durchaus kapitalismuskritisch eingestell­te Sozialkatholizismus in dieser Partei über eine einflussreiche Minderheitenposition, die es nicht zu ignorieren galt, wenn sich die Partei ihre hegemoniale Stellung in der Wählerschaft sichern wollte. Konrad Adenauer auf der einen und Hans Katzer, Karl Ar­nold sowie Jakob Kaiser auf der anderen Seite haben dies immer gewusst und sich entsprechend arrangiert (wie bei der Einführung der dynamischen Rente und der Institu­tionalisierung der paritätischen Mitbestimmung in der Montanindustrie). Als die Dele­gierten des CDU-Parteitages im Jahre 2005 auf ihrer markradikalen Erweckungsveran­staltung in Leipzig dies vergessend Norbert Blüm offen auslachten, wäre es daher fast um die CDU als Volkspartei geschehen gewesen. Wenn heute von einer „Sozialdemo­kratisierung“ der Union gesprochen wird, dann kann damit nur ihre Adaption des Schröderschen Neoliberalismus gemeint sein. Steinmeier, Steinbrück, Clement und wie sie sonst alle heißen tragen (und trugen) ja bekanntlich das sozialdemokratische Par­teibuch nur aus Versehen und würden wohl auch gut in die „sozialdemokratisierte“ Uni­on der Angela Merkel hineinpassen, welche die Politik der Agenda 2010 konsequent weiterführt.

Wie „linksradikal“ (und damit nach heutigen Maßstäben der Beobachtung durch den Verfassungsschutz bedürftig) einst nicht ganz einflusslose Teile der CDU agierten, ma­chen folgende Zitate deutlich.

1. In den Frankfurter Leitsätzen der CDU vom September 1945 heißt es: „Wir beken­nen uns zu einem wirtschaftlichen Sozialismus auf demokratischer Grundlage, und zwar in folgender Form: Wir erstreben die Überführung gewisser großer Urproduk­tionen, Großindustrien und Großbanken in Gemeineigentum. Wir wollen ferner, dass die Wirtschaft im Großen einheitlich und planvoll gelenkt werde, weil nur da­durch Fehlanzeigen und Verschwendung volkswirtschaftlichen Gutes verhindert und ein Wiederaufbau nach sozialen und gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsgesichts­punkten und nicht nur nach privatwirtschaftlichen Rentabilitätsgrundsätzen gesi­chert werden kann. Deshalb wollen wir vor allem eine öffentliche Kontrolle und Len­kung der Kapitalanlage, soweit ein Interesse der Allgemeinheit daran vorliegt. ... Es ist daher unser sozialistisches Ziel, einer möglichst großen Zahl von Menschen ein Leben in Freiheit von Not, in menschlicher Würde und Selbstverantwortung zu si­chern.“ (Nachbemerkung des Verfassers: Ich glaube nicht, dass ein solcher Text

als Antrag auf dem Bundesparteitag der LINKEN so ohne weiteres eine Mehrheit erzielen würde.)

2. Ganz im Sinne dieser Programmpassage äußerten sich auch prominente CDU-Politiker (und nicht irgendwelche christlicheb Sektierer). Jakob Kaiser, der langjäh­rige Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse und Bundesminister für Gesamtdeut­sche Fragen unter Konrad Adenauer (1949-1957), verkündete in einer Rede in Ber­lin am 13. Februar 1946: „Für uns ist die demokratische Haltung im Politischen und die sozialistische Haltung im Wirtschaftlichen und Sozialen von dem obersten Ge­setz der freien, sich ihrer Würde bewussten Persönlichkeit beherrscht. Der Persön­lichkeit, die sich in freier, sittlicher Entscheidung dem größeren Ganzen ein- und un­terordnet. Das ist für uns das Wesen des demokratischen Sozialismus aus der christlichen Verantwortung.“ (Nachbemerkung des Verfassers: Aus der Sicht „sozi­aldemokratisierter“ CDUler handelt es sich hier gewiss um eine ganz besonders grässliche kollektivistische Formulierung, welche unter heutigen Maßstäben den Herrn Bundesminister sofort für eine besondere Beobachtung durch den Verfas­sungsschutz empfohlen hätte)

Aber die frühe CDU hatte ja noch viel schlimmere Menschen aufzuweisen. In links­radikaler Untergrundarbeit hatte ein gewisser Karl Arnold es doch tatsächlich ge­schafft, sich das Amt des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen zu erschlei­chen (1947-1956), und das mit der finsteren Absicht: „Entzünden wir die Fackel des christlichen Sozialismus!“ (Rede in Düsseldorf am 24.11.1945). Eine ähnlich fragwürdige Gestalt aus Sicht „sozialdemokratisierter“ CDUler dürfte Johannes Albers sein (CDU-MdB 1949-1957, Stellvertretender Fraktionsvorsitzen­der ab 1951). Seine Äußerungen aus dem Juni 1946 klingen so, als würde heute ein Mitglied der Kommunistischen Plattform innerhalb der LINKEN sein politisches Glaubensbekenntnis ablegen: „Die kommende politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung kann also keine kapitalistische, keine bürgerliche und keine liberale Ord­nung mehr sein. Ausgangspunkt der Ordnung kann nicht mehr der liberale bürgerli­che Mensch mit seiner Wirtschaftsfreiheit und seinem Streben nach privatem Ge­winn sein. Das regulative Prinzip des wirtschaftlichen Lebens hat nicht mehr der freie Wettbewerb, sondern die Bedarfsdeckung des Volkes und die rechtliche Gleichstellung des schaffenden Menschen in Betrieb und Berufsvertretung und in der Wirtschaft zu sein.“

Und in einem Wahlaufruf vom Juni 1946, den u.a. der später unter Konrad Ade­nauer als Bundesverteidigungsminister und Bundesminister für Arbeit und Sozial­ordnung amtierende Theodor Blank (1955/1956 und 1957-1965) verfasste, heißt es: „Der Kapitalismus ist zusammengebrochen. Wir sind die letzten, die ihm eine Träne nachweinen. Eine neue Zeit bricht an, sie trägt sozialistisches Gepräge.“

3. Konsequenterweise wirbt die CDU dann zur Stadtverordnetenwahl 1946 in Berlin auf einem Plakat mit folgenden Parolen: „Arbeiter der Stirn und der Faust! Wir stehen am Anfang einer Zeitenwende! Das bürgerlich-kapitalistische Zeitalter ist vorbei! Dem Sozialismus gehört die Zukunft. ... Arbeiter! Darum hinein in die Christlich-Demokratische Union Deutschlands, hinein in die große deutsche sozialistische Volkspartei!

Die sozialkatholische Strömung wurde allerdings in der CDU nie mehrheitsfähig. Jedoch verfügte sie in den 1950er und 1960er Jahren wahlstrategisch über eine Schlüsselposi­tion, da sie die katholische Arbeitnehmerschaft einband. Der Sozialstaat, wie wir ihn einmal kannten – und welcher von der „geschröderten“ Sozialdemokratie abgewrackt wurde – war wesentlich vom Sozialkatholizismus geprägt worden. So fand der Ausbau der Bundesanstalt für Arbeit von einer bloßen Vermittlungs- und Auszahlungsstelle zu einer arbeitsmarktpolitisch aktiven Institution in der Großen Koalition 1966-1969 unter dem Arbeits- und Sozialminister Hans Katzer statt (was die „geschröderte“ Sozialdemo­kratie mit der Schaffung des SGB II wieder beseitigte).

Die vielgepriesene „Soziale Marktwirtschaft“ der alten Bundesrepublik beruhte auf einer logisch nicht ganz stimmigen Mixtur aus ordoliberaler Wirtschaftsphilosophie und katho­lischer Soziallehre. Da der Sozialkatholizismus heute in der CDU keine politische Hei­mat mehr hat – wenn wir mal von Außenseitern wie Norbert Blüm und Heiner Geißler absehen – (eine im engeren Sinne katholische Arbeiterbewegung als mögliche soziale Basis existiert auch nicht mehr), so ist die „Sozialdemokratisierung“ der CDU im Sinne der Agenda 2010 und Hartz IV die logische Konsequenz.. Eine (wenn man so will) „gemerkelte“ CDU kann ihr sozialkatholisches Erbe nur als beklagenswerte Verirrung betrachten und wird versuchen, es mit dem Mantel des Vergessens zuzudecken. Und wenn marktradikale Journalisten von WELT bis FAZ allerhand Unsinn über die „Sozial­demokratisierung“ der Union schreiben, dann demonstrieren sie lediglich eindrucksvoll den in diesen Kreisen grassierenden Verfall an historischer Bildung.