Ein Neustart für DIE LINKE?

Joachim Bischoff / Bernhard Müller / Björn Radke

12.09.2010 / www.sozialismus.de

Schwarz-Gelb holpert allen Aufschwungprognosen zum Trotz weiter, Rot-Grün ist zumindest im Umfrage-Aufschwung. Und DIE LINKE? Sie vermeldet ein Ende der Debatten um die Bezahlung des Führungspersonals sowie einen Achtungserfolg bei den Bürgermeisterwahlen auf Helgoland, wo ihre Kandidatin Felicitas Weck den Vertreter der ganz großen Koalition von CDU, SPD, FDP und der Interessengemeinschaft Helgoländer Moats in eine Stichwahl gezwungen hat. Ist DIE LINKE also neu am Start?

Während sich die deutsche Wirtschaft über eine unerwartete wirtschaftliche Erholung freut, die Arbeitslosigkeit leicht rückläufig ist und die Steuereinnahmen etwas kräftiger sprudeln, als bis vor kurzem noch prognostiziert, kommt Schwarz-Gelb nicht aus dem Umfragetief heraus. Es gehört nicht viel prognostische Fähigkeit dazu, vorauszusagen, dass auch das auf den Weg gebrachte staatswirtschaftliche Energiekonzept und das radikale Sparprogramm die Sympathiewerte für das neoliberale Regierungsbündnis nicht massiv nach oben treiben werden. Die Allianz von Kabinett und Kapital (die großen Stromkonzerne) ist zu offensichtlich und verstärkt das vorhandene Misstrauen.

Christdemokraten und Liberale sehen sich mit einer doppelten Herausforderung in ihrer Wählerschaft konfrontiert:

Einerseits wandert ein größerer Teil des bürgerlichen Wählerklientels von 2009 enttäuscht in die Wahlenthaltung und gesellt sich zu der großen Heerschar der BürgerInnen, die vom politischen Betrieb nicht mehr viel erwarten. Wenn die Enttäuschung über das politische System (Unfähigkeit der politischen Klasse) vor dem Hintergrund ungelöster und sich zuspitzender Verteilungsauseinandersetzungen sich mit Abstiegsängsten paart, entsteht das Potenzial für eine ressentimentgeladene Politik. Diese sucht die Lösung der gesellschaftlichen Probleme vor allem in Ausgrenzungsstrategien gegenüber MigrantInnen und SozialleistungsempfängerInnen. Der aktuelle Sarrazin-Hype ist ein deutlicher Indikator für die weite Verbreitung solcher rechtspopulistischer Stimmungen in der Bevölkerung.

45% der BürgerInnen sehen die MitbürgerInnen mit Migrationshintergrund bevorzugt. Diese Wahrnehmung hat viel damit zu tun, dass trotz des aktuell hoch gejubelten Wirtschaftsaufschwunges rund 80% der Befragten eine Stagnation oder Schlechterstellung ihrer wirtschaftlichen Position erwarten. Der rechtspopulistisch inspirierte Angriff von Sarrazin erweist sich insofern als Vorbote einer Bewusstseinsveränderung, die weit in das bürgerliche Lager und den Bereich der Sozialdemokratie ausstrahlt.

Andererseits läuft Rot-Grün – auch ohne Tiefrot – als alt-neues attraktives Farbenmuster Schwarz-Gelb deutlich den Rang ab. Dass die sozialdemokratisch-grüne Politik der neuen Mitte viel mit der Durchsetzung des Finanzmarktkapitalismus zu tun hatte, ist längst aus dem Alltagsbewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung verschwunden. Die Sozialdemokratie befindet sich in den Umfragen inzwischen wieder auf Augenhöhe mit der CDU. Die Grünen können vor Kraft kaum laufen und erreichen aktuell auf Bundesebene eine Zustimmung von an die 20%. In Berlin erscheint gar die erste grüne Regierende Bürgermeisterin zum Greifen nah.

Unbestreitbar hat vor allem die Sozialdemokratie sich seit der herben Wahlschlappe im vergangenen Jahr bewegt. Ein gesetzlicher Mindestlohn, die Begrenzung der Leiharbeit, die Verschiebung der Rente mit 67, die Erhöhung der Einkommensteuerspitzensätze und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer markieren – wenn oft auch halbherzig und innerparteilich umstritten – Korrekturen an der unseligen Agenda 20-Politik. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Irrweg ist allerdings bis heute unterblieben und ein neues gesellschaftliches Reformprojekt nicht erkennbar.

Demgegenüber verblasst DIE LINKE als politische Kraft. Sie kann im Konzert erfolgreicher Oppositionsparteien nicht mithalten und die Auseinandersetzungen um die Wahl eines neuen Bundespräsidenten waren dazu bestenfalls ein kleines Mosaiksteinchen. Die aktuellen Umfragen signalisieren nicht mehr nur eine Stagnation, sondern eine rückläufige Zustimmung bei der eigenen sozialen Basis. In den westdeutschen Bundesländern wurden zuletzt nur noch Zustimmungswerte von um die 5% gemessen, was in etlichen Bundesländern nicht zum Einzug in den Landtag reichen würde. Woher kommt dieses "Verblassen der Linkspartei"?

Das hat sicherlich viel (und wahrscheinlich in erster Linie) mit der komplizierten gesellschaftlichen Großwetterlage zu tun. Durch massive staatliche Interventionen (Gelder für die Banken, Konjunkturprogramme und Kurzarbeit) sind die Folgen des drastischen Wirtschaftseinbruchs (-4,7%) abgefedert worden und hielt sich der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Grenzen. Mit der vor allem exportinduzierten wirtschaftlichen Erholung in 2010 konnte die Kurzarbeit weitgehend abgebaut werden. Es finden sogar Neueinstellungen statt – wenn auch vorwiegend im Bereich prekärer Beschäftigung.

In den gewerkschaftlich gut organisierten Bereichen der Exportindustrie kämpfen die Beschäftigten um einen Lohnnachschlag, für die große Mehrheit der Bevölkerung steht allerdings fest: An den Ergebnissen des Aufschwunges partizipieren nur die Reichen und Vermögenden, die überwiegende Mehrheit der Lohnabhängigen wird vom Zuwachs der gesamtwirtschaftlichen Leistung nichts abbekommen. Zudem ist unklar, wie nachhaltig die wirtschaftliche Erholung ist, weil auf wichtigen Exportmärkten (USA, China) ein wirtschaftlicher Rückschlag droht und der angekündigte scharfe Sparkurs der schwarz-gelben Bundesregierung die private Nachfrage massiv beschädigt. In einer solchen offenen und unsicheren Konstellation ist es mit Sicherheit schwierig, die Notwendigkeit eines radikalen Politikwechsels zu vermitteln.

Es stimmt allerdings auch, dass DIE LINKE die Veränderungen der gesellschaftlichen Großwetterlage nur unzureichend verarbeitet hat. Zu Recht konstatiert die parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion, Dagmar Enkelmann: „Es gibt ernsten Anlass zur Diskussion. Es geht um den Umgang miteinander, um die Festlegung inhaltlicher Schwerpunkte, um die Organisation unserer Arbeit. Wir sind in dieser Wahlperiode in einer neuen Situation, das haben wir noch nicht verinnerlicht. Die SPD ist nicht mehr in der Regierung, sondern in der Opposition. Das hat Folgen. Vorwürfe an die Sozialdemokraten in Bezug auf deren Entscheidungen in Regierungsverantwortung verlieren allmählich ihre Überzeugungskraft, zumal die SPD diese Zeit kritisch zu reflektieren beginnt und Positionen partiell korrigiert. Das bringt uns in eine neue Lage. Wir müssen unser eigenes Profil deutlich machen, unseren Markenkern, auch in Abgrenzung zur SPD. Wir haben Alternativen, eigene Konzepte für Arbeit und Beschäftigung, Rente und gerechte Steuern. Damit müssen wir offensiver umgehen.“ (im Interview mit dem Neuen Deutschland vom 8.9.2010)

Auf die Frage, ob DIE LINKE nicht mehr mit sich selbst zu tun habe, antwortet Enkelmann: „Leider ist dieser Eindruck nicht vom Tisch zu wischen. So kann es aber nicht bleiben. Dass wir gegenüber der SPD ins Hintertreffen zu geraten drohen, hat auch mit dem Zustand in unserer Partei zu tun. In den letzten Wochen ist mir viel Unmut an der Basis begegnet. Debatten über Vorsitzendengehälter sind für Genossen, die ständig für die Partei unterwegs sind, Geschäftsstellen am Leben halten und nicht mal Kilometergeld abrechnen, nicht nachvollziehbar. Und auch nicht, wie viel Porzellan in manchen Landesverbänden im Streit zerschlagen wurde, ohne dass es erkennbar um inhaltliche Auseinandersetzungen geht."

Diese Einschätzung ist zutreffend. Statt der inhaltlichen Alternativen standen in den letzten Wochen der Zustand etlicher Landesverbände und die Bezahlung des politischen Personals – von den Medien aufgegriffen und verstärkt – im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Bei vielen Mitgliedern und WählerInnen verdichtete sich dabei der Eindruck, dass auch in der LINKEN Teile der Repräsentanten den Bezug zu den durchschnittlichen Lebensverhältnissen der Lohnabhängigen verloren haben. Ob die jetzt eingeleitete Neuordnung der Bezahlung für Funktionäre diese Zweifel beseitigen kann, muss sich erst noch zeigen.

DIE LINKE hat Mühe, in dieser Situation ihre Alternativen für die ungelösten und drängenden gesellschaftlichen Probleme deutlich zu machen. Die Große Krise ist keineswegs zu Ende. Die Finanzmärkte sind nicht reguliert und die Strukturkrisen zentraler wirtschaftlicher Sektoren nicht gelöst. Das Krebsgeschwür prekärer Arbeitsverhältnisse frisst sich weiter durch den gesellschaftlichen Arbeitskörper – die Entwertung des Werts der Ware Arbeitskraft setzt sich ungehemmt fort und damit die Zuspitzung in den Verteilungsverhältnissen. Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün verfügen über eine Ausweg aus dieser Krisenkonstellation.

Gleichzeitig ist ein vermehrtes Aufbegehren gegen die Politik von Schwarz-Gelb in zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Protesten zu verzeichnen, angefangen von der Bewegung "Wir zahlen nicht für eure Krise" im Frühjahr 2009 und den Kundgebungen in Stuttgart und Berlin im Juni 2010, die im Herbst in weiteren Protestaktionen unter dem Motto "Gerecht geht anders" in breiter Trägerschaft fortgesetzt werden.

Nur wenn es der LINKEN gelingt, gegenüber einer kurzfristigen ökonomischen Erholung sensibel für die tieferliegenden sozialen Ungerechtigkeiten zu bleiben, diese zu thematisieren, zu analysieren und sich von dem deutlich werdenden Protestpotenzial für die eigene Arbeit inspirieren zu lassen, hat sie eine Chance, als Oppositionskraft wieder stärker wahrgenommen zu werden. Und sie könnte die politische Repräsentanz von Lohnabhängigen, Prekarisierten und Ausgegrenzten befördern. Damit würde sie zugleich zum Motor und Bestandteil einer zivilgesellschaftlich verankerten und zugleich politikfähigen Mosaik-Linken.