Linke Politik wird gebraucht, und sie wirkt

Rede von Lothar Bisky, Vorsitzender der Partei DIE LINKE

16.05.2010


Liebe Genossinnen und Genossen, verehrte Gäste!

In einem europäischen Remake wurden in den vergangenen Wochen die Bankenrettungspakete von 2008 neu aufgelegt. Diesmal lautete der Titel: "Wir verhindern einen Staatsbankrott." Die Szenerie war bestimmt von Krisensitzungen der Regierungsoberhäupter. Die Scheinwerfer leuchteten von Athen, nach Berlin, auf Brüssel und zuletzt zur Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Der Internationale Währungsfonds schnürte für Griechenland sein Kreditpaket. Er nannte auch den üblichen Preis: die Plünderung der öffentlichen Kassen und der Griff in die Taschen der Bürgerinnen und Bürger. Die Regierungen der Mitgliedsländer maskierten Untätigkeit und Aktionismus mal mit dem Mäntelchen der staatsmännischen Verantwortung, mal mit dem Galgenstrick der Alternativlosigkeit. Die Konsequenzen dieses filmreifen Politdramas kennen die Menschen am besten, die sich gar keine Kinokarte mehr leisten können. Es steht fest: Die Armut wird im reichen Europa weiter wachsen. Das Vertrauen in politische Lösungen ist erschüttert.

Schauen wir nach Ungarn. Dort ist die verbrannte Erde, die der Internationale Währungsfonds hinterlassen hat, mit einer rechtspopulistischen Regierung quittiert worden. Selbst am Zerfall Jugoslawiens hat der Internationale Währungsfonds eine Aktie. Was soll denn jetzt da herauskommen, wenn diese Spezialisten vom Internationalen Währungsfonds nach Athen geschickt werden? Das frage ich mich. Da gibt es genügend Stoff innerhalb und außerhalb Europas, in Lateinamerika, in Asien, in Afrika, den man studieren kann. In den Augen des IWF sind doch Ausgaben für Bildung, Ausgaben für Gesundheit, für sozialen Fortschritt, für ökologische Entwicklung nur unnötiges Zeug.

Fragen wir die Menschen in den Entwicklungsländern. Unter dem Diktat des IWF sind alle Hoffnungen auf die Überwindung der Armut zerbrochen. Nur die Zinsforderungen der Gläubiger wurden heilig gesprochen. Das Ergebnis ist bitterste Armut auf Jahrzehnte – und zwar für mehr als zwei Milliarden Menschen auf unserer Erde. Diese Wirklichkeiten sind für uns schwer zu fassen. Erst als die Privatbanken es übertrieben hatten und die Zahlungsunfähigkeit der Entwicklungsländer drohte, da erst traten westliche Regierungen auf den Plan. Sie nahmen den Banken mit Steuergeldern das Kreditrisiko ab und verhandelten einen Schuldenerlass.

Jetzt hat das europäische Remake der Schuldenkrise begonnen. Banken spekulieren auf riesige Gewinne aus den hohen Zinsen der verschuldeten Länder. Im Bündnis mit anderen Spekulanten treiben sie die Zinssätze immer weiter in die Höhe, bis schließlich der Kollaps droht. Und dann sollen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler einspringen, Beschäftigte auf Lohn verzichten, damit die Rechnung aufgeht. Allein die Deutsche Bank strich in den ersten drei Monaten 2010 einen Rekordgewinn von 2,8 Milliarden Euro ein. 99 Prozent davon kamen aus dem Investmentbanking. Für Griechenland dagegen sind Jahrzehnte der Armut kalkuliert. Doch wenn die griechische Regierung keine Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung mehr tätigen kann, dann wird der Rückstand zu anderen Ländern ständig wachsen. Das ist vorhersehbar. Hier werden keine Rettungspläne, sondern Teufelskreise installiert! Und dagegen müssen wir kämpfen.

Solange die Spekulationen nicht mit politischem Willen zerschlagen werden, bleiben diese Raubritter aktiv und inszenieren das nächste Remake ihrer Erpressungsmaschinerie.

In Griechenland wehren sich viele Menschen gegen diese Entwicklung. Sie gehen auf die Straßen. Sie warnen vor der nächsten Umverteilungswelle. Unsere Solidarität gilt den griechischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, unseren Freunden von Synaspismos und dem Syriza-Bündnis, den Menschen in Griechenland, die ihre sozialen Rechte, ihre Zukunft verteidigen. Ich freue mich, dass morgen Anna Filini von Synaspismos an unserem Parteitag teilnehmen wird.

Genossinnen und Genossen, die EU hat das Jahr 2010 zum Jahr des Kampfes gegen Armut und soziale Ausgrenzung erklärt. Immerhin leben in Europa schon heute über 80 Millionen Menschen in Armut und noch einmal 80 Millionen Menschen sind von Armut bedroht. Hinter dieses Zahlen verbergen sich eine unerträgliche Ausgrenzung von Romafamilien, Millionen Illegale, die weder Bürgerrechte genießen, noch Einfluss auf die Aushandlung ihrer Einkommen haben. In Deutschland hat jedes siebte Kind kaum Chancen auf die Förderung seiner Begabungen.Vor zwei Jahren arbeitete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) dem Armutsbericht der Bundesregierung zu. Die Ergebnisse bündelten die Lage vor dem aktuellen Krisenbeginn. Das DIW ermittelte eine seit 2000 angestiegene Armutsquote auf 18 Prozent. Doch bei der Veröffentlichung der Bundesregierung war dann von 13 Prozent die Rede.(1) In Statistik ist die Bundesregierung gut und geübt, wenn auch nur in Statistik. Und das betrifft dann immer noch 11,5 Millionen Menschen. Das sind 11,5 Millionen zu viel.

War Europa nicht dereinst bekannt für erfolgreiche Sozialstaaten, in denen Kooperation und Teilhabe, Mitbestimmung statt Fremdbestimmung hohe und gelebte Werte waren? Statt die Sozialstaaten zu modernisieren, tobt deren besinnungsloser Abbau. In Deutschland haben Rot-Grün, die Große Koalition und Schwarz-Gelb allesamt diesen abenteuerlichen Kurs gehalten. Sie haben eine ganze Idee zerstört, von Eigenverantwortung und Fordern schwadroniert und erzählen noch heute, dass wir uns ein menschenwürdiges Leben nicht mehr leisten können. Und da muss man sagen: Es ist an der Zeit, den Sozialstaat durch die Institutionen der EU zu sichern und nicht abzubauen. Es ist an der Zeit, die politische Intelligenz auf eine Harmonisierung sozialer Standards auf hohem Niveau zu richten. Es ist an der Zeit, die Drosslung der Binnenmärkte zu beenden. Liebe Genossinnen und Genossen, es ist an der Zeit, Hedgefonds zu verbieten, Steueroasen auszutrocknen, und in jedem Land die Finanztransaktionssteuer einzuführen. Es ist an der Zeit, die Willkürherrschaft der Finanzmärkte zu beenden. In der EU werden zur Zeit nicht die Armut und die soziale Ausgrenzung bekämpft, sondern die Zocker und Spekulanten bedient. Der jetzt geltende Lissabon-Vertrag schreibt dem Europäischen Parlament mehr Rechte zu. Beim Finanzkrisenmanagement erleben wir stattdessen eine Governmentalisierung der EU mit französischen und deutschen Großmachtgebaren. Das ist garantiert der falsche Weg. Vor über einem Jahr forderte der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ein neues System der internationalen Währungsreserven und die Armutsbekämpfung als erstes Krisenprogramm. Nun hat er sich zur Eurokrise zu Wort gemeldet: "Noch hat Europa die Chance, diese Reformen durchzuführen. Die EU würde so den auf Solidarität beruhenden Idealen gerecht, die der Einführung des Euro zugrunde lagen. Ist Europa dazu nicht in der Lage, ist es vielleicht besser, das Scheitern zuzugeben und anders weiterzumachen. Und nicht im Namen eines fehlerhaften Wirtschaftsmodells ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit und menschlichem Leid hinzunehmen."(2)

Genossinnen und Genossen, welche Akzeptanz könnte Europa bei der weltweiten friedlichen Konfliktbeilegung erhalten, wenn die Länder endlich ihre Truppen aus dem Krieg in Afghanistan abziehen würden, wenn unser Kontinent nicht als starker Exporteur von Waffen, sondern als Exporteur von sozialer Sicherheit auftreten würde. Dazu gehört, dass er nicht zur Importregion des IWF-Diktats mutiert. Die Ideologien des entfesselten Marktes, helfen nur den Zockern und Spekulanten und lähmen Europa im weltweiten Kampf gegen Klimakrise und Hunger. Diese herrschende Politik in der EU blockiert Solidarität und Verantwortung in einer multipolaren Welt, in einer Welt, in der in Asien ein rasantes wirtschaftliches Wachstum und in Lateinamerika neue Gesellschaftsmodelle erprobt werden.

Genossinnen und Genossen, morgen, am Sonntag, können wir, falls die Aschewolke weg und wenn in Tegel eine pünktliche Landung gelingt, hohen Besuch aus Mittelamerika empfangen, Wir erwarten den Poeten, Theologen und Sozialisten Ernesto Cardenal. Er wurde 1979 Kulturminister der sandinistischen Regierung. Doch acht Jahre später wurde das Kulturministerium – angeblich aus Kostengründen – aufgelöst. Dieser Akt des kulturellen Tiefgangs ereignete sich vor 23 Jahren. Ich erinnere deshalb an diesen Vorgang, weil er eine Parallele zu manch Begebenheiten in Europa und in unserem Land offenbart. Zum Beispiel sind zwei Bilder von Walter Womacka und Roland Paris, die in der DDR entstanden sind, bedroht. Sorglos setzt die Bundesregierung diese Bilder privaten Käufern ohne weitere Verpflichtung aus. Sie reiht sich damit in eine weltumspannende Politik des kulturellen Vergessens ein. Diese Beteiligung am physischen Verschwinden europäischer Kunst des 20. Jahrhunderts ist nicht hinnehmbar! Solche Vorgänge laufen inzwischen beinahe ohne Öffentlichkeit ab. Das beweist einmal mehr, dass eine Politik, die nur noch auf die Signale der Banken fixiert ist, auch Geschichtslosigkeit, Demokratieabbau und kulturellen Verfall bedeutet.

Ernesto Cardenal hat einmal gesagt: "Das Evangelium hat uns radikalisiert, ich bin durch das Neue Testament zum Marxisten geworden". Doch für die meisten Menschen sind es seine Psalmen, die anders als die Sprache der Wissenschaft und der Politik an den Lebenssinn, an die Hoffnung auf eine gerechte Welt erinnern. Daraus kann ich nur eine Schlussfolgerung ziehen: Unterschiedliche Sichten auf drängende Fragen werden zum kulturellen Gewinn, wenn wir deren Austausch ernsthaft organisieren. Doch dafür bedarf es der Voraussetzung, dass wir Wissen und kulturelle Erfahrungen für alle zugänglich machen und für alle zugänglich halten. Und was im Großen gilt, liebe Genossinnen und Genossen, das gilt auch in Kleinen. Wir haben dem Austausch unterschiedlicher Erfahrungen, von Brandenburg bis Bayern und den verschiedenen Herangehensweisen an programmatische Fragen den allergrößten Platz einzuräumen. Die Programmkommission hat ihren Entwurf vorgelegt. Jetzt sind Offenheit, kluge Debatten zur Eigentumsfrage und zur LINKEN als Kraft demokratischer Erneuerung gefragt.

Genossinnen und Genossen, die Turmbläser der Wirtschaftseliten intonieren nach wie vor die Signale der Börsen und Renditen. Und der Chor der herrschenden Politik folgt mit dem immer gleichen Refrain: Drückt die Löhne. Senkt die Renten, senkt die Steuern. Bremst die Staatschulden. Die letzten Wochen vor der NRW-Wahl haben nicht nur politischen Handlungsstau, haben Affären á la Rent a Rüttgers und staatstragenden Chauvinismus gegen Griechinnen und Griechen zu Tage gefördert. Nein. Wir hatten wieder Grund zum Feiern, denn die LINKE in NRW hat ihr Wahlziel erreicht. Wir sind im 13. Bundesland in den Landtag eingezogen und der Kurs der sozialen Gerechtigkeit wird auch sein Ziel im Süden der Republik nicht verfehlen. Ich möchte heute darauf verweisen, dass es unmöglich ist, Politik in NRW ohne Lehren aus der europäischen Geschichte machen zu wollen. In NRW wurde aus der Waffenschmiede Hitlers, eine reiche friedliche Region mit einer großen europäischen Migrationsgeschichte, eine Region, die ganz unmittelbar mit den Gründungsideen der Europäischen Union verknüpft war. In den Nachkriegszeiten galt trotz Kaltem Krieg die Einbindung übermächtiger Wirtschaftskraft noch als tragbares politisches Projekt. Nationales Großmachtdenken sollte damals für alle und für immer auf dem Müllhaufen der Geschichte wandern. Vor exakt 60 Jahren begründete der damalige französische Außenminister Schumann seinen Plan der Sicherung des innereuropäischen Friedens durch die "Vergemeinschaftung". Im Mittelpunkt stand die gegenseitige Kontrolle der kriegswichtigen Güter Kohle und Stahl, sowie die Sicherstellung dieser entscheidenden Produktionsfaktoren für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Kohle und Stahl waren damals das Gold des Ruhrgebiets und dies prägt auch heute seine kulturelle Identität. Jetzt heißen die Rohstoffe der neuen Industrien, mehr Wissen, eine umfassende Auswertung der schwierigen Erfahrungen mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel nach dem Zechensterben. Es gibt inmitten des Kulturhauptstadtrummels, an dem wir zu Recht so vieles kritisiert haben, einige großartige Projekte, z. B. eine kulturelle Stadtplanung mit Migrantinnen und Migranten in Duisburg-Marxlohe. Heute stehen überall die Herausforderungen einer nachhaltigen Energie- und Klimapolitik und die Herausforderungen an eine moderne und gerechte Wissens- und Informationsgesellschaft. Unsere neue Landtagsfraktion, der Landesverband, die ganze Partei werden dafür sorgen, dass die Sorgen und die Stärken der Menschen aus der Region, nicht links liegen gelassen werden. Wir setzen uns dafür ein, dass die Interessen von Erwerbslosen und Beschäftigten, von Rentnerinnen und Rentnern, von Studierenden und kleinen Unternehmen nicht weiter an den Rand politischen Handels gedrängt werden. Für den Wahlerfolg vom 9. Mai haben viele Mitglieder aus der ganzen Partei gekämpft. Und ich finde darauf können wir stolz sein.

Genossinnen und Genossen, mit den Wahlerfolgen im Rücken, geht es um den Blick nach vorn. Wir erleben gerade härteste soziale Auseinandersetzungen mitten im finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Noch immer sind Belegschaften von strategischen Unternehmensentscheidungen ausgeschlossen. Wie soll denn ein sozial-ökologischer Umbau gelingen, wenn die Gewinnerwartungen der Wirtschaft der alleinige Maßstab sind? Die größte Bedrohung für die Demokratie geht von den systemischen Krisen des Kapitalismus aus. Die Krise der sogenannten Arbeitsgesellschaft frisst Löcher in den sozialen Zusammenhalt.

Die transnationalen Wirtschaftsmächte diktieren die Arbeitsbedingungen und jagen das Lohndumping um den ganzen Erdball. Nur die Anteile der Einkommen aus Gewinnen und Vermögen wachsen. Längst sind die Löhne von der Produktivität abgekoppelt. Längst ist das Rad des Freiheitsgewinns durch Arbeitszeitverkürzung zurückgedreht. Die soziale Schere bedeutet für einige eine dauerhafte kulturelle Ausgrenzung, und in den Schulen unseres Landes wird diese Kluft auch noch verschärft. Eine der größten Wählergruppen sind inzwischen die Nichtwählerinnen und Nichtwähler geworden. Viele von ihnen kommen tatsächlich aus ärmeren Schichten. So entstehen Mehrheiten und Wahlgewinner, die die Interessen aller nur noch verzerrt widerspiegeln.

Genossinnen und Genossen, wenn Beschäftigte mit mieser Bezahlung, oder Erwerbslose denken, auf meine Stimme kommt es sowieso nicht an, dann fehlen Stimmen für eine andere Politik. Dann fehlen Stimmen für einen Politikwechsel und für Reformmehrheiten. Ich sehe darin für unsere junge Partei eine der größten Herausforderungen! Diese Entleerung der Demokratie ist am Ende keine ökonomische Frage, kein Problem der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Sie ist eine kulturelle, eine gesellschaftspolitische Systemfrage. Der Sozialstaat der 70er Jahre hat weder traditionelle Familienbilder aufgebrochen noch Geschlechtergerechtigkeit umfassend befördert. Doch seine Herausbildung war damit verbunden, dass es als zutiefst unanständig galt, Bürgerinnen und Bürgern nur nach ihrer Beteiligung am Wirtschaftsleben zu beurteilen. Bildungsaufstieg für viele oder die Rechtsberatung in der Sozialhilfe sind erfolgreiche Beispiele sozialer Integration, die heute beinahe schon wieder Geschichte sind. Wenn uns Linken vorgeworfen wird, wir wollten den Sozialstaat der 70er Jahre zurück, dann sage ich klipp und klar: Ja, wir werden die Sozialstaatsidee verteidigen und sie weiterentwickeln! Auch gegen jene geistig Verarmten, die nur noch einen Satz fehlerfrei sprechen können, nämlich den Satz "Steuern senken!". Wir verteidigen die demokratische Teilhabe als Grundpfeiler funktionierender Gesellschaften. Wenn uns dafür jemand ein stockkonservatives Etikett anhängen möchte, dann soll er das tun. Den Sloterdijks und Sarrazins, die von demütigenden Almosen träumen, zeigen wir die rote Karte, auch auf diesem Parteitag. Denn: Die tägliche Demütigung von Millionen Menschen, ist genau das, was eine Gesellschaft wirklich belastet. Die Armut kostet unser aller Zukunft. Nicht die Menschen, die Armut selbst – als Folge verfehlter Politik – ist der schlimmste Kostenfaktor unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Eine "gute Gesellschaft" gibt es nicht zum Nulltarif. Was gehört dazu und Wie viel sind wir bereit dafür zu zahlen? Das ist die erste Frage, wenn man die Gesellschaftskrise überwinden will. Eine Gesellschaft, die nur noch als Anhängsel des Marktes und der Bedürfnisse der Aktionäre behandelt wird, wird Schritt für Schritt zerstört. Den Gegenbeweis hat noch niemand angetreten!

Genossinnen und Genossen, wir haben in den täglichen Auseinandersetzungen, die Interessen unserer Wählerinnen und Wähler zu vertreten. Das ist für unseren politischen Erfolg eine notwendige Voraussetzung. Doch für Veränderungen braucht es auch den Mut zur Alternative. Oskar Negt stellte kürzlich fest: "Es sind ja nicht die Visionäre oder die Utopisten, die diese kapitalistische Gesellschaftsordnung nach neoliberalem Zuschnitt an den Rand einer Katastrophe getrieben haben, sondern es sind die sogenannten Tatsachenmenschen,… die mit atemberaubender Instinktsicherheit öffentliche Schuldenberge anhäufen, Natur zerstören und die Polarisierung zwischen Arm und Reich auf ein groteskes Niveau heben. Nur noch Utopien scheinen dagegen heute realistisch zu sein."(3)

Dabei sind Utopien, liebe Genossinnen und Genossen, alles andere als Wolkenkuckucksheime. Es geht nicht darum, was wir uns wünschen. Es geht darum, welche Alternativen unter den vorhandenen Bedingungen möglich sind: Die Produktivkräfte sind so entwickelt, dass kein Mensch hungern müsste. Technologien, die den Klimawandel bremsen können, sind erfunden. Und wir könnten sie nutzbringend für alle anwenden, wenn die Macht großer Energieunternehmen durch öffentliche Kontrolle gebrochen und Kommunen gestärkt würden.

Die Krise der Lohnarbeit und des Sozialstaates ist ein schleichendes Gift. Sie zerfrisst allmählich die Grundsätze von der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger. Akut sind die Einschläge, die die Finanzmärkte, die Zocker-Fonds und Spekulanten der Demokratie versetzen. Die Finanzmarktkrise hat die parlamentarischen Demokratien in Notstandsregime verwandelt. Auffällig ist doch, dass dabei ein ums andere Mal die Regulierungen des Finanzmarktes auf der Strecke bleiben. Die nächste Spekulationswelle gegen Währungen und Staatshaushalte ist längst im Rollen. "Geld her oder der Euro stürzt!" hieß es Freitag vor den NRW-Wahlen. Warum aber - nach wochenlanger Untätigkeit -dann die Eile bei der Verabschiedung der Gesetze? Wurde das Parlament von den Banken und der Exekutive erneut über den Tisch gezogen? Wer demokratische Gepflogenheiten ohne Not aushebelt, hat die demokratischen Prozesse inzwischen vollständig dem Verwertungshunger des Finanzkapitals unterstellt. Und das dürfen wir nicht länger zulassen! Die Art und Weise der Bankenrettung von Herbst 2008 und vom Frühjahr 2010 gehören endlich in einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss!

Genossinnen und Genossen, die Erpressung durch das Finanzkapital ist keine Verfahrensfrage, sie gefährdet die Zukunft. Gelingt es uns Chancen herauszuarbeiten? Oder geraten wir immer tiefer in Abwehrschlachten um demokratische Spielräume. Mit der Verselbständigung der Finanzmärkte hat sich der gesellschaftliche Reichtum aus den Lebens- und Produktionsverhältnisse der Gesellschaft verabschiedet. Das ist der neuralgische Punkt der gegenwärtigen Krise. Zuerst wurden den Gesellschaften und Staaten die Ressourcen für die öffentliche Infrastruktur entzogen. Jetzt erpresst sich die Finanzwelt Garantien und Hilfen, für die die Staaten sich weiter verschulden. Ob die Staaten, die angehäuften Schulden jemals abtragen können, wird heute ernsthaft angezweifelt. Doch darauf kommt es gar nicht mehr an. Entscheidend ist für die Zocker und Banken, dass die Zinsen bezahlt werden. Und: Wächst der Anteil des Schuldendienstes an den öffentlichen Haushalten dann verschwinden die Spielräume für politische Gestaltung, so - wie Bilder ins Nirwana einer geschichtslosen Gesellschaft.

Erst wenn die Zocker und Banken Demokratien weder erpressen noch in den Notstand treiben können, werden die richtigen Ansätze zu einer koordinierten Wirtschaftspolitik der EU greifen können. Billiger ist es nicht zu haben.

Die Handlungsoptionen, die wir aus den realen Widersprüchen des Finanzmarktkapitalismus entwickeln, werden keine Spaziergänge sein, gerade weil wir sie als Kraft der demokratischen Erneuerung an unserem Gerechtigkeits- und Gleichheitsverständnis messen. Ja, wir waren in den vergangenen Tagen bestürzt, dass unser Genosse Stefan Doernberg, gerade den 65. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus nicht mehr erleben konnte, er, der in der Roten Armee aktiv zur Befreiung beigetragen hat. Doch wir haben in der Trauer uns zugleich seines kraftvollen Vermächtnisses angenommen: Geschichte ist offen und es lohnt sich darin Partei zu ergreifen für eine bessere Welt.

Genossinnen und Genossen, an der Griechenlandhilfe wird die Aufgabe, die sich uns Linken stellt besonders deutlich. Natürlich haben wir kein Interesse an einem Staatsbankrott Griechenlands. Das zögerliche Verhalten der deutschen Regierung hat die Krise nur verschärft und das haben wir kritisiert. Doch einer Hilfe, die die Aushebelung sozialer Standards zur Bedingung macht, werden wir nicht zustimmen können. Unsere Sache ist es, soziale Standards in Europa zu verteidigen und nach oben anzugleichen. Als europäische Linke müssen wir für ein europäisches Regelwerk kämpfen! Damit es eingeleitet wird! Die Spekulanten leben von den wirtschaftlichen Ungleichgewichten in der EU. Die deutschen Bankhäuser verdienen prächtig. Das deutsche Exportmodell mit seinen niedrigen Lohnstückkosten hat für andere Länder teilweise verheerende Folgen. Wenn wir höhere Löhne, eine gute Mindestsicherung, die Stärkung der Binnennachfrage fordern, dann ist das schon ein großes Stück europäische Solidarität! Wir sollten nie vergessen, dass wir als deutsche Linke hier in einer sehr komfortablen Situation agieren. Der Wohlstandschauvinismus mit nationalistischem Einschlag, den BILD und andere eingeschlagen haben, wird zunehmen. Wir haben eine enorme Verantwortung, dass diese Demagogie nicht weiter in alle Poren der Gesellschaft eindringt! Und ich bin es allmählich leid, die korruptesten Firmen in Griechenland heißen immer noch Siemens. Das ist ja wirklich ein sehr griechischer Name. Grad steht die Deutsche Bank in den USA vor Gericht, bei uns geht das ja offenbar nicht. BILD & Co sollten anstatt ihrer Überheblichkeit gegenüber anderen, erst mal hier an die eigene Nase fassen.

Genossinnen und Genossen, ich werde meinen Beitrag in Brüssel und in der EL leisten, damit aus unserem Aktionsprogramm mehr wird als ein weiser Parteitagsbeschluss. Im Dezember findet in Paris der 3. Kongress der Partei der Europäischen Linken statt. Wir wollen zeigen, dass wir in jedem Jahr erfolgreich gegen Armut und Ausgrenzung antreten – und dafür brauchen wir auch eine Parteientwicklung, die aus dem dritten Gang mal in den vierten schaltet.

An dieser Stelle gilt mein großer Respekt einer besonnenen Basis. Unsere Genossinnen und Genossen, haben in einer unnötige Führungskrise klaren Kopf bewahrt und mit klugen Entscheidungen den Weg für einen guten Neustart freigemacht. Gestattet mir, dass ich mich an meinem letzten Tag als Parteivorsitzender bei allen bedanke, die mich fast sechzehn Jahre in meinem Amt unterstützt oder mir widersprochen und mich dadurch herausgefordert haben. Und es sei mir gestattet, mich ganz persönlich bei Grit, Beck, Konstanze Kriese, Thorsten Zopf, Karl Holluba und Dietmar Bartsch zu bedanken. Und natürlich wäre alles ohne Almuth nicht gegangen. Manche Entwicklungswidersprüche können wir mit quotierten Doppelspitzen doppelt gut bearbeiten.

Genossinnen und Genossen, Offenheit untereinander und die Überzeugung, dass es gut ist, eine sympathische Adresse für Bürgerinnen und Bürger zu sein, daraus lässt sich viel machen. Dieser Wahlparteitag für einen neuen Vorstand soll den Weg zu einem lebendigen Parteiaufbau ebnen, mit Programmdebatten und erfolgreichen Wahlkämpfen, mit Kampagnen und dem großen strategischen Blick, dessen Ausgangspunkt ist: Linke Politik wird gebraucht und DIE LINKE wirkt. Das zeigte vor genau drei Jahren am 13. Mai die Wahl in Bremen. Das zeigte das Superwahljahr 2009, das haben die Wahlen in NRW gezeigt. Das wird die Zukunft zeigen. Und wir werden das einlösen:

Wir alle, gemeinsam.

Anmerkungen
(1) Siehe: HANDELSBLATT, Dienstag, 20. Mai 2008, DIW: Armutsbericht beschönigt Lage
(2) FTD, 7. Mai 2010, Joseph Stiglitz: Wie der Euro noch zu retten ist - Die europäischen Defizitländer sollten nicht gezwungen werden, sich zu Tode zu sparen. Es gibt drei weitere Möglichkeiten, das Bestehen der Währungsunion zu sichern.
(3) In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Mai 2010