Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen

Von Christoph Butterwegge

14.02.2010

Weiterentwicklung des Sozialstaatsgebotes oder sozialpolitischer Pyrrhussieg?

Das Bundesverfassungsgericht hat die Berechnung der Regelsätze bei Hartz IV (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) am 9. Februar 2010 für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt und die Bundesregierung verpflichtet, bis zum 1. Januar 2011 eine Neuberechnung vorzunehmen und bis dahin nötigenfalls einmalige Beihilfen zu ge­währen, um Hilfebedürftigen durch Deckung ihrer Sonderbedarfe eine menschen­würdige Existenzsicherung zu gewährleisten.

Bewertung des Urteils

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist zu begrüßen und ein Meilenstein im Kampf gegen Hartz IV, weil zum ersten Mal ein „menschenwürdiges Existenz­minimum“ aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 hergeleitet wurde. Sie bestätigt höchst­richterlich, dass die Regelsätze nach politischen Kriterien und damit willkürlich fest­gelegt wurden, ohne die Interessen der Hilfebedürftigen an einer menschenwürdigen Existenz ausreichend zu berücksichtigen. Beseitigt werden muss nach dem BVerfG-Urteil auch die soziale Ungerechtigkeit, dass Kinder mit 60 Prozent des Erwachsenen­regelsatzes abgefunden werden, wenn sie jünger als sechs Jahre sind, mit 70 Prozent, wenn sie sechs bis 13 Jahre alt sind, und mit 80 Prozent, wenn sie 14 bis 17 Jahre alt sind. Das BVerfG erkennt im Unterschied zur Bundesregierung an, dass Kinder keine Erwachsenen „im Miniformat“ sind, sondern spezifische Bedarfe haben. Kinder wachsen eben noch, weshalb sie häufiger Kleidung und neue Schuhe brauchen. All das bleibt unberücksichtigt, wenn man vom Erwachsenen-Regelsatz einfach bloß einen be­stimmten Prozentsatz für die Kinder vorsieht.

Wie hoch der Regelsatz für Kinder sein muss, lässt sich nicht vom Schreibtisch eines Ministerialbeamten aus entscheiden, wie die Bundesregierung offenbar geglaubt hat. Wenn ein sechs- bis 13-jähriges Schulkind 251 Euro im Monat erhält, kann es gerade mal 3,11 Euro pro Tag für Nahrungsmittel und 2,13 Euro im Monat für Schulmaterialien ausgeben. Das Beispiel zeigt, dass man mit diesem Beitrag gar nicht auskommen kann, wenn allein das Mittagessen in mancher Kita schon zwei oder 2,5 Euro kostet. Erst recht kann ein Kind nicht an gesellschaftlichen, kulturellen und Bildungsprozessen teil­nehmen, denn Nachhilfeunterricht, die Kinokarte und der Theaterbesuch kosten normalerweise Geld, das Hartz-IV-Bezieher/innen nicht haben. Wahrscheinlich müsste der Regelsatz daher mindestens um 50 Euro bei den Kleinsten, um 100 Euro bei den Schulkindern und um 150 Euro bei den älteren Kindern bzw. Jugendlichen erhöht werden, damit in einer so reichen Gesellschaft wie der unsrigen wenigstens das sozio­kulturelle Existenzminimum von Kindern gesichert ist.

Bundesarbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen hat unmittelbar nach der Urteilsverkündung statt Regelsatzerhöhungen die Einführung von Sachleistungen für die Kinder ins Gespräch gebracht. Dahinter steckt die Unterstellung, dass eine Er­höhung des Regelsatzes bei vielen Kindern aus Hartz-IV-Familien gar nicht ankäme, weil die Eltern das Geld lieber für ihre Bedürfnisse ausgeben würden. Zwar mag es tat­sächlich den einen oder anderen Vater geben, der sich lieber einen Flachbildschirm kauft, als das zusätzliche Geld seinen Kindern zugute kommen zu lassen. Wissen­schaftliche Untersuchungen haben jedoch übereinstimmend ergeben, dass sich die meisten Eltern das letzte Hemd ausziehen würden, bevor sie ihre Kinder spüren lassen, wie arm die Familie ist. Mit den seltenen Ausnahmen vergnügungssüchtiger Familien­väter zu begründen, dass keine Erhöhung der Regelsätze stattfinden soll, womit alle übrigen Eltern und Kinder völlig schuldlos benachteiligt würden, halte ich für perfide. Übrigens landen auch Subventionen, die man Unternehmern zahlt, oft nicht dort, wo sie ankommen sollten. Das hat aber nie dazu herhalten müssen, die Forderung nach einem Ende aller Subventionen für Unternehmen zu legitimieren.

Grundsätzlich müsste stärker als bisher in unsere soziale Infrastruktur allgemein und besonders die Betreuungsinfrastruktur für Kinder investiert werden, die vor allem gegenüber den skandinavischen Ländern einen großen Nachholbedarf aufweist. In den dortigen Gemeinschaftsschulen, die Kinder bis zur 10. Klasse gemeinsam unterrichten, existieren nicht bloß mehr Lehrer/innen, sondern auch Sozialarbeiter und Psycho­loginnen. So kommen die Hilfe und die Betreuung auch bei den sozial benachteiligten Kindern an. Und gerade für die ist es ja besonders wichtig, dass sie in Ganztagsschulen ein warmes Mittagessen, Förderunterricht und kulturelle Angebote bekommen. Außerdem können die Eltern, besonders alleinerziehende Mütter, in der Zeit, in der ihre Kinder betreut werden, vollzeiterwerbstätig sein und sich entsprechend quasi aus der Armut heraus arbeiten.

Darüber hinaus brauchen die sozial benachteiligten und bedürftigen Familien allerdings auch mehr finanzielle Mittel zu ihrer freien Verfügung, denn das meiste, was man bei uns zum Leben braucht, bekommt man nur gegen Bares. So zu tun, als lägen die sozialen Defizite bloß auf dem Gebiet der Beteiligungs-, nicht aber der Verteilungsge­rechtigkeit, wäre verkürzt. Denn heute ist das Geld in fast allen Lebensbereichen so wichtig wie noch nie, und es ist auch so ungleich verteilt wie noch nie. Wer die Armut bekämpfen will, kommt an einer Umverteilung von Einkommen, Vermögen und Arbeit nicht vorbei.

Auch Gutscheine sind keine Lösung, weil sie letztlich eine weitere Diskriminierung von Armen bedeuten. Denn wenn sie einen solchen im Geschäft einlösen, müssen sie sich als Transferleistungsempfänger „outen“. Mit der Würde des Menschen, die unsere Ver­fassung in Artikel 1 des Grundgesetzes zum obersten Wert erklärt, ist das genauso wenig vereinbar wie der Zwang, betteln zu gehen. Statt der sonst viel beschworenen „Eigenverantwortung“ wird für Hartz-IV-Bezieher/innen offenbar Unmündigkeit zum er­klärten Ziel. Das Geld, das die Armen bekommen, reicht übrigens gar nicht aus, um einen Missbrauch im großen Stil zu befürchten, denn auch Arme müssen sich ja Kleidung und etwa zu essen kaufen.

Immerhin hat der Bund zum 1. Juli 2009 eine dritte Altersgruppe eingeführt und für die sechs- bis 13-jährigen Kinder den Regelsatz auf 70 Prozent der Erwachsenen (251 Euro) angehoben, diese Erhöhung aber auf Ende 2011 befristet. Gleichzeitig wurden Steuererleichterungen wirksam, die auch den Geringverdiener(inne)n zugute kommen (Senkung des Eingangssteuersatzes von 15 auf 14 Prozent und Heraufsetzung des Grundfreibetrages), aber das sind alles eher Tropfen auf den heißen Stein.

Zu fragen bleibt, warum sich die Bundesregierung bisher so schwer mit einer An­passung der Regelsätze an die gestiegenen Lebenshaltungskosten getan hat und wie die Politiker mit dem Urteil aus Karlsruhe umgehen werden. Die etablierten Parteien halten seit jeher das sog. Lohnabstandsgebot hoch und interpretieren es so, dass die Sozialleistungen für Familien niedrig bleiben müssen, damit Beschäftigte mit mehreren Kindern ein höheres Einkommen haben. Deshalb werden Sozialleistungen möglichst nicht den steigenden Lebenshaltungskosten angepasst. Umgekehrt müssten die Löhne steigen, damit die Sozialleistungen nicht sinken. Die einzig richtige Konsequenz aus dem Karlsruher Urteil wäre deshalb ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn, will man dem „Lohnabstandsgebot“, das keineswegs unproblematisch ist, Genüge tun. Denn bloß wenn das Lohn- und Gehaltsniveau stabilisiert wird, macht ein solches Postulat überhaupt Sinn, ohne dass die Menschenwürde der Sozialleistungsbezieher/innen auf der Strecke bleibt.

Wenn die Bundesregierung an der Regelsatzhöhe wenig oder nichts verändert, bleiben die Hartz-Regelsätze ihre sozialpolitische Achillesferse, zumal das Karlsruher Urteil die allgemeine Pauschalierung der Transferleistungen nicht ausschließt, nur eine „Härtefall­regelung“ für Sonderbedarfe „in seltenen Fällen“ verlangt und von einem „Anspar­potential“ spricht, das in der Regelleistung enthalten sei. Als wäre es nicht völlig lebens­fremd anzunehmen, dass Arme sparen, wie es Richter und andere Mittelschichtangehörige tun! Auch wenn das Bundesverfassungsgericht im Wesent­lichen rein formaljuristisch argumentiert und vor allem Methodenkritik äußert, statt Hartz IV substanziell in Frage zu stellen, wird sein Urteil eine breite Debatte auslösen und bietet daher Chancen, im Kampf gegen das Gesetzespaket neue Mitstreiter/innen zu gewinnen. Gleichwohl besteht die Gefahr, dass am Ende eine Kürzung des Eckregelsatzes (für alleinstehende Erwachsene) herauskommt, die Bundesregierung das BVerfG-Urteil zum weiteren Abbau des Sozialstaates missbraucht und sich der juristische (Teil-)Erfolg der Kläger/innen nicht als Weiterentwicklung des Grund­gesetzes, vielmehr als sozialpolitischer Pyrrhussieg erweist.

Dass die Armen in einem reichen Land nicht bloß vor dem Verhungern bewahrt werden müssen und erheblich mehr als ein Dach über dem Kopf brauchen, vielmehr einen ver­fassungsrechtlich geschützten Anspruch auf die Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums durch den Sozialstaat haben, betont das Urteil mit erfreulicher Klar­heit. Dagegen bekennt sich heute kaum noch jemand noch offen zu Hartz IV, sondern immer mehr Politiker rücken inzwischen – und sei es aus wahltaktischen Gründen wie Jürgen Rüttgers in NRW – davon ab. Vielleicht kommt es zu einem politischen Domino-Effekt: Nachdem die Berechnungsart der Regelsätze hinfällig ist, gehört Hartz IV ins­gesamt auf den Prüfstand. Dringend nötig wäre eine soziale Grundsicherung, die den Namen wirklich verdient. Sie müsste bedarfsorientiert, armutsfest und repressionsfrei sein.

Es ist nicht anzunehmen, dass der Spruch aus Karlsruhe die Situation der Armen im Lande grundlegend verbessert, weil die etablierten Parteien und Politiker in den letzten Jahren zwar häufiger als früher über das Problem der (Kinder-)Armut gesprochen, aber bislang kaum etwas dagegen getan haben. Die neue Bundesregierung denkt offenbar eher an eine weitere Erhöhung des steuerlichen Freibetrages für Kinder, was haupt­sächlich Wohlhabenden und Reichen zugute käme, als an Erleichterungen für sozial benachteiligte Familien. Die Karlsruher Richter lassen zu, dass die Bundesregierung am Ergebnis wenig ändert, sofern die Berechnungsmethoden realitätsnäher, bedarfs­gerechter und transparenter werden. Dabei wäre es wirklich an der Zeit, die soziale Un­gleichheit zu verringern.

Hintergründe und Entstehungsgeschichte des Urteils

Durch das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz IV) hat sich die soziale Lage von Millionen Menschen deutlich verschlechtert. Beispielsweise hat sich die Zahl der armen Kinder, die auf dem Sozialhilfeniveau leben, seit dem 1. Januar 2005, als Hartz IV in Kraft trat, ungefähr verdoppelt. Im März 2007, also auf dem Höhepunkt des letzten Konjunkturaufschwungs, lebten über 1,92 Millionen Kinder unter 15 Jahren von insgesamt knapp 11,5 Millionen Kindern dieser Altersgruppe in Hartz-IV-Haushalten. Es handelte sich um den traurigen Rekordstand für Kinderarmut in Deutschland. Diese ist seither leicht gesunken – zumindest auf dem Papier, nicht zu­letzt deshalb, weil die Bundesregierung den Kinderzuschlag von 140 Euro im Oktober 2008 „entbürokratisiert“, d.h. die Zugangsbedingungen erleichtert und die Be­zieher/innen gedrängt hat, einen Antrag auf Wohngeld für ihre Kinder zu stellen, damit diese nicht mehr in der Hartz-IV-Statistik erscheinen.

In Görlitz waren im März 2007 nicht weniger als 44,1 Prozent der Kinder Hartz-IV-Empfänger/innen, im bayerischen Starnberg waren es aber nur 3,9 Prozent aller Kinder. Das zeigt sehr deutlich die regionale Ungleichverteilung der Armut. Insbesondere in Ostdeutschland ist es dringend nötig, für mehr Beschäftigung zu sorgen und einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Denn dort ist das Haupt­problem, dass die Menschen, wenn sie überhaupt Arbeit haben, häufig im Niedriglohn­sektor beschäftigt sind. Das trägt entscheidend zur Armutsentwicklung unter den Kindern bei.

Was im offiziellen Politjargon als „Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ firmiert, war in Wirklichkeit die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und damit der Lebens­standardsicherung für Langzeitarbeitslose. Eingeführt wurde das Arbeitslosengeld (Alg) II, welches eigentlich „Sozialhilfe II“ heißen müsste, weil es höchstens das Existenz­minimum abdeckt. Millionen Menschen wurden schlechtergestellt und die bisherigen Empfänger/innen von Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) in erwerbsfähige, die Alg II be­ziehen, einerseits und nichterwerbsfähige, die Sozialgeld bzw. -hilfe erhalten, anderer­seits aufgespalten.

Eingerichtet wurde eine Rutsche in die Armut: Mit seinem Grundbetrag von 345 Euro monatlich für den Haushaltsvorstand im Westen bzw. 331 Euro im Osten (plus Er­stattung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, sofern sie „angemessen“ sind) war das Alg II ebenso hoch wie der Sozialhilfe-Regelsatz. Zum 1. Juli 2006 wurde es auf das Westniveau angehoben, ein Jahr später um zwei Euro und zum 1. Juli 2008 auf 351 Euro erhöht. Kinder bis 13 Jahre erhielten zunächst ein Sozialgeld in Höhe von 207 Euro im Westen und 199 Euro im Osten (seit 1. Juli 2008 einheitlich 211 Euro), Jugend­liche von 14 bis 18 Jahren 276 Euro im Westen und 265 Euro im Osten (ab 1. Juli 2008 einheitlich 281 Euro). Gegenwärtig betragen die Regelsätze für alleinstehende Er­wachsene 359 Euro, für Kinder von null bis fünf Jahren 215 Euro, für Kinder von sechs bis 13 Jahren 251 Euro und für Kinder/Jugendliche von 14 bis 17 Jahren 287 Euro.

Beim HLU-Regelsatz standen sich Kinder unter sieben Jahren, denen bis dahin nur 55 Prozent des Eckregelsatzes zugestanden worden waren, fortan zwar etwas besser, die übrigen Kinder und die Jugendlichen jedoch schlechter als früher. Unter dem Wegfall der meisten sog. wiederkehrenden einmaligen Leistungen, also spezieller Beihilfen, etwa für den Erwerb von Kleidungsstücken wie einen Wintermantel für Kinder oder die Reparatur defekter Haushaltsgeräte wie einer Waschmaschine, die man bei der Sozial­hilfe vorher zusätzlich beantragen konnte, sowie der Pauschalierung von Leistungen leiden primär Familien mit Kindern sämtlicher Altersstufen, deren Bedarf in dieser Hin­sicht ausgesprochen hoch ist.

Dass die Bundesregierung diese heimliche Kürzung bei den ärmsten Kindern nur zum Teil, nämlich bei den sechs- bis 13-jährigen Sozialgeldbezieher(inne)n, und zwar aus­gerechnet im Rahmen ihres „Konjunkturpaketes II“ (!) wieder zurückgenommen hat, indem sie deren Regelsatz ab 1. Juli 2009 und bis zum 31. Dezember 2011 befristet (!) von 60 auf 70 Prozent des Eckregelsatzes für (allein lebende) Erwachsene auf 251 EUR anhob, zeigt zur Genüge, dass sie das Wohl der Betroffenen nie ernsthaft im Auge hatte.

Die gleichfalls im „Konjunkturpaket II“ enthaltenen Steuererleichterungen (Senkung des Eingangssteuersatzes von 15 auf 14 Prozent; Heraufsetzung des Grundfreibetrages) kommen zwar auch den Geringverdiener(inne)n zugute, waren aber eher Tropfen auf den heißen Stein. Transferleistungsempfänger/innen haben gar nichts davon, weil sie keine Einkommensteuer bezahlen. Dringend nötig wäre eine deutliche Erhöhung der Hartz-Regelsätze. Das würde tatsächlich die Wirtschaft beleben helfen, weil Arme ge­zwungen sind, ihr gesamtes Einkommen fast unmittelbar in den Konsum zu stecken. Deshalb würde nicht nur mehr soziale Gerechtigkeit verwirklicht, sondern die Maß­nahme wäre auch ökonomisch sinnvoll.

Am 27. Januar 2009 hat das Bundessozialgericht in Kassel den Hartz-IV-Regelsatz für Kinder als nicht grundgesetzkonform beurteilt und die Angelegenheit dem Bundes­verfassungsgericht in Karlsruhe zur höchstrichterlichen Entscheidung vorgelegt. Das hessische Landessozialgericht legte dem höchsten deutschen Gericht auch den Eckregelsatz (für alleinstehende Erwachsene) zur Prüfung vor. In der mündlichen Ver­handlung am 20. Oktober 2009 wurde deutlich, dass die Regelsätze willkürlich fest­gelegt wurden und dass es sich um eine politische Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung handelte, den sog. Eckregelsatz für einen (allein lebenden) Er­wachsenen, mit 345 EUR im Monat anzusetzen. Davon pauschal 60, (neuerdings) 70 bzw. 80 Prozent für Kinder abzuleiten, trug den spezifischen Bedürfnissen von Kindern überhaupt nicht Rechnung. Kinder wachsen noch, weshalb sie mehr Kleidung und häufiger neue Schuhe als Erwachsene brauchen.

Ungefähr zur selben Zeit, als das Bundesverfassungsgericht am 20. Oktober 2009 darüber verhandelte, ob die Bedürfnisse der in „Hartz-IV-Haushalten“ lebenden Kinder bei der Regelsatzbemessung angemessen berücksichtigt wurden oder zumindest die Kinderregelsätze das Sozialstaatsgebot des Grundgesetz verletzen, trieb CDU, CSU und FDP offenbar sehr viel stärker die Sorge um, „Leistungsträger“ und Besserver­dienende könnten – auch für ihre Kinder – zu viel Steuern zahlen. Denn sie be­schlossen nicht etwa, die Armut von Kindern und Jugendlichen aus sozial be­nachteiligten Familien zu verringern, sondern den Steuerfreibetrag für Kinder zunächst auf 7.008 Euro und später auf die künftig für Erwachsene geltende Höhe von 8.004 Euro anzuheben sowie das Kindergeld von 164 Euro auf 184 Euro monatlich zu er­höhen.

Dabei handelt es sich nicht um eine Entlastung „der“ Familien, wie CDU, CSU und FDP behaupten, sondern um eine weitere Begünstigung von Besserverdienenden und Be­güterten. Die zuletzt Genannten profitieren davon überproportional, Eltern mit einem geringen Einkommen haben jedoch wenig und Transferleistungsempfänger/innen mit noch so vielen Kindern gar nichts davon. Um es konkret zu machen: Ein Spitzenver­diener „spart“ durch die im „Wachstumsförderungsgesetz“ enthaltenen Maßnahmen jährlich 443 Euro Steuern und ein Normal- oder Geringverdiener erhält 240 Euro mehr Kindergeld, während die Not der alleinerziehenden Mutter im Hartz-IV-Bezug kein biss­chen gelindert wird. Ganz im Gegenteil: Durch die aufgrund der bei Ländern und Kommunen zu erwartenden Steuerausfälle werden Gemeinden, Landkreise und kreis­freie Städte nicht per Gesetz verpflichtend vorgesehene Beratungs- und Betreuungs­angebote gerade für solche Familien eher weiter einschränken. Da ist es nur folge­richtig, dass Armut als ein gesellschaftliches Kardinalproblem gar nicht und die Armut von Kindern im Koalitionsvertrag nur in einem lapidaren Satz erwähnt wird: „Wir wollen Kinder von Anfang an unterstützen, ihre Stärken erkennen, ihre Chancen fördern, Be­nachteiligungen verhindern sowie Kinderarmut bekämpfen.“

Beim steuerlichen Freibetrag sollen die Kinder den Erwachsenen möglichst bald gleich­gestellt werden. Beim Hartz-IV-Regelsatz wehrte sich die Bundesregierung jedoch gegen eine solche Gleichbehandlung, obwohl die von Sozialgeld lebenden Kinder darauf viel eher angewiesen wären als die Kinder der Einkommensteuerzahler/innen, und man fragt sich, wie beides unter Menschenrechtsgesichtspunkten miteinander ver­einbar ist. Man kann nur von Beratungsresistenz sprechen, wenn selbst die Konferenz der Landesarbeits- und -sozialminister der Bundesregierung empfahlen, spezifische Kinderregelsätze zu ermitteln und diese unverzüglich zu erhöhen, weil das höchste deutsche Gericht schon bei seiner Anhörung am 20. Oktober in Karlsruhe deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass es Zweifel hegte, ob die Kinderregelsätze mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Wenn sich die soziale Lage von Hartz-IV-Haushalten nicht spürbar verbessert, dürften Sozialkaufhäuser, Lebensmitteltafeln und Kleiderkammern künftig einen noch größeren Boom erleben. Wollten die Koalitionäre der Kinderarmut in Deutschland wirksam be­gegnen, müssten sie die armen Kinderreichen statt der Reichen mit vielen Kindern materiell fördern. Nur bilden sozial Benachteiligte weder die Klientel der FDP, noch ver­treten die „christlichen Volksparteien“ ihre Interessen, auch wenn die jetzige Bundes­sozialministerin und für Hartz IV zuständige Ressortchefin Ursula von der Leyen im Wahlkampf die Kinderarmut zu dem für sie drängendsten Problem erklärte.

Da jene drei Parteien eine Regierungsmehrheit errungen haben, deren Spitzen­repräsentant(inn)en sich mehr als die übrigen darum sorgen, dass die Wohlhabenden, Reichen und Superreichen nicht zu viel Einkommen- bzw. Gewinnsteuern zahlen, wird die Ungerechtigkeit des Steuersystems und damit auch die soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik spürbar wachsen. „Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung“ wird mit der Begründung zum Regierungsprogramm erhoben, man müsse die „Leistungs­träger“ stärker unterstützen. „Arbeit muss sich wieder lohnen“ hatte ausgerechnet die FDP plakatiert – jene Partei, die am energischsten gegen Mindestlöhne eintritt sowie den Leiharbeits- und Minilohnbereich ausweiten möchte.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind von ihm die Bücher „Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland“ sowie „Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“ er­schienen.