Die Entfaltung sozialer Dienstleistungen

aus: DGB-Debattenmagazin "Gegenblende", Ausgabe 1/2010

02.01.2010 / Dr. Cornelia Heintze, DGB-Debattenmagazin "Gegenblende", 1/2010

Es ist richtig, Deutschland als Industriestandort zu erhalten. Eine Strategie aktiver Industriepolitik wird jedoch nicht verhindern, dass der Anteil der Beschäftigung im Sekundärsektor weiter zurückgeht. 2008 gab es dort (Produzierendes Gewerbe und Baugewerbe) noch knapp 10 Mio. Beschäftigte. Das entspricht einem Anteil von 27 Prozent an allen abhängig Beschäftigten. Der Rückgang von 2 Mio. Beschäftigten gegenüber 1995 konnte durch die Steigerung des Exportüberschusses nicht verhindert werden. Dies umso mehr als der Exporterfolg mit einer ausgeprägten Lohnzurückhaltung und damit einer Schwächung der Binnenökonomie erkauft wurde. Eine Politik fortgesetzter Arbeitszeitverkürzung hätte den Rückgang abbremsen, aber kaum ausgleichen können. Nicht anders zu beurteilen ist die Strategie eines Green New Deals. Der Umbau der Energie- und Verkehrssysteme in Richtung Klimaneutralität und Ressourceneffizienz schafft Arbeitsplätze. Die Rolle, die er innerhalb einer Beschäftigungsstrategie spielen kann, sollte aber nicht überschätzt werden. Auf einzelnen Märkten (Solarbranche, z.B.) sind Schwellenländer dabei, von Nettoimporteuren zu Nettoexporteuren aufzusteigen.

Das beschäftigungspolitische Doppelproblem der "Arbeitsplatzlücke" zwischen 5 und 7 Mio Arbeitsplätzen bei gleichzeitiger Notwendigkeit, den boomenden Working-poor-Bereich einzudämmen, verweist auf die Dienstleistungsökonomie. Sieht man von den unternehmensnahen Dienstleistungen ab, weist Deutschlands Weg in die Dienstleistungsgesellschaft Anzeichen einer deformierten Entwicklung auf. Bei sozialen und gesellschaftsnahen Dienstleistungen gilt dies im Besonderen. Nur ein Entwicklungsrückstand läge vor, wenn Deutschland bei Erziehung/Fürsorge, Bildung, Kultur und Altenpflege zwar relativ zurückstünde, aber grundsätzlich auf dem richtigen Wege wäre. Dies ist nicht der Fall. Deutschland fällt nicht nur gegenüber den fünf nordisch-skandinavischen Ländern mit ihren weltweit am höchsten entwickelten Wohlfahrtsstaaten immer weiter zurück, sondern hat auch gegenüber anderen Ländern an Terrain eingebüßt. Regression statt Progression könnte die Überschrift lauten. Einige Facetten dieser Fehlentwicklung möchte ich grob skizzieren.

Öffentlicher Dienst vor der Ausblutung

Gemessen an den Beschäftigungsdichten skandinavischer Länder wies der deutsche öffentliche Dienst 1997 eine fiktive Beschäftigungslücke zwischen 4,7 Mio Arbeitsplätzen (in Relation zu Finnland) und 7,6 Mio Arbeitsplätze (in Relation zu Dänemark) auf. Die Schere ist in der folgenden Dekade stetig auseinandergegangen. Die größte Lücke besteht zu Norwegen (8,4 Mio Arbeitsplätze), gefolgt von Dänemark (8,2 Mio) und Schweden (7,4 Mio). Wählt man Finnland als Bezugspunkt, hätte der deutsche öffentliche Dienst 1997 statt 5,2 Mio 9,9 Mio Beschäftigte und 2008 statt 4,5 Mio 10,3 Mio Beschäftigte haben müssen; die fiktive Lücke wuchs von 4,7 Mio auf 5,8 Mio fehlender Arbeitsplätze. Nicht nur im Verhältnis zu skandinavischen Ländern, sondern auch im Verhältnis zu Teilen der angelsächsischen Länder sind divergente Entwicklungen festzustellen. Mit der Beschäftigungsdichte von Großbritannien hätte der öffentliche Dienst 1999 6,8 und 2008 7,3 Beschäftigte gezählt – eine von 1,8 auf 2,8 Mio gewachsene Lücke. Zwar mindert sich diese Lücke auf 2,2 Mio, wenn öffentliche Unternehmen mit Erwerbsfunktion einbezogen werden. Bei den skandinavischen Ländern mit ihrer vergleichsweise moderaten Privatisierungspolitik steigt die deutsche Beschäftigungslücke jedoch an, wenn unter Öffentlichem Sektor neben Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen auch noch die ganz oder mehrheitlich in öffentlichem Besitz befindlichen Unternehmen erfasst werden.[1]

Dass die in Deutschland parteiübergreifend betriebene Ausblutungsstrategie des öffentlichen Dienstes vor allem die von Jungen wie Alten direkt nutzbaren Serviceleistungen trifft, zeigt sich an der kommunalen Auseinanderentwicklung. Schon Anfang der 90er Jahre kamen auf 100 Arbeitsplätze im skandinavischen Kommunalsektor nur rd. 27 Arbeitsplätze in deutschen Kommunalverwaltungen. Bis 2008 ist die Zahl auf 14 geschrumpft.

Ungedeckter Bedarf

Die Beschäftigungsdichte von Dänemark hätte Deutschland 2008 ein Plus von 4,7 Mio Arbeitsplätzen beschert. Die Lücke erklärt sich nicht einfach über das höhere Niveau von Dienstleistungsbeschäftigung. Entscheidend ist, dass in Dänemark ein wirtschaftlich aktiver Staat in den Bereichen Bildung, Forschung/Entwicklung, Kultur, Gesundheit/Pflege hochwertige Arbeitsplätze dem gesellschaftlichen Bedarf entsprechend schafft. Dänemark trifft sich bei der Entwicklung der gesellschaftsnahen Dienstleistungsökonomie mit den anderen skandinavischen Ländern. So auch mit Norwegen. Das relative Mehr an Arbeitsplätzen gegenüber Deutschland liegt im Tertiärsektor bei jeweils etwas über 5 Mio. Es speist sich aus den öffentlichen Dienstleistungen mit dem Schwerpunkt bei Gesundheit, Pflege und den sonstigen Sozialdiensten sowie dem Bildungswesen, wo Dänemark und Norwegen ein in der Größenordnung identisches Mehr an Beschäftigung von knapp 0,9 Mio Stellen bieten. Der zentrale Faktor hinter der enormen Beschäftigungsrelevanz von Pflegeleistungen (Vgl. die Übersicht) besteht darin, dass diese zum Katalog der kommunalen Pflichtaufgaben gehören. Im Bereich von „residential care“ bot der dänische öffentliche Dienst 2008 318 Tsd. Arbeitsplätze bei einer Teilzeitquote von nur 11,5 %. Das einwohnermäßig 15mal so große Deutschland hat (Daten von 2006; Quelle: Stat. BA) trotz höherer Altenquote im Bereich der ambulanten und stationären Pflege weniger als 2,5 mal so viele Beschäftigte; fast die Hälfte hat nur einen Teilzeitjob. Der deutsche Weg zwischen Familie und Kommerz verschenkt nicht nur Beschäftigungspotentiale, sondern bedingt zugleich die Prekarisierung von Arbeit und eine Polarisierung bei der Dienstleistungsqualität. Welches Ausmaß die Mängel haben, ist breit dokumentiert (siehe u.a. die Berichte des Medizinischen Dienstes).

Grafik vergrößert

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UN-DL = Unternehmensnahe Dienstleistungen, SV = Sozialversicherung
1) Kultur, Unterhaltung, Sport wurde unter „staatsnah“ erfasst, da der öffentliche Sektor bei den rechnerischen Vollzeitkräften dominiert.

Lesehilfe: Im Sekundärsektor wies Dänemark 2008 gegenüber Deutschland eine fiktive Beschäftigungslücke von 698 Tsd. AN auf. Umgekehrt hatte Deutschland bei sozialen Dienstleistungen eine AN-Beschäftigungslücke von 3,5 Mio.
Quellen
: Nationale Statistiken (Denmark Statistics, Datenextration (update: Juni 2009) über CODE RASOFF5349 0496347; Norwegen: Statistical Yearbook of Norway 2008, Deutschland: Statistisches Bundesamt Fachserie 1, Reihe 1.3 (Bevölkerungsfortschreibung) und Fachserie 18, Reihe 1.4 (Inlandsproduktrechnung, detaillierte Jahresergebnisse 2007, 2008 (Stand von Mai 2009). Eigene Berechnungen

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Ohne Staatsquotenerhöhung keine Bildungsrepublik

Gleichermaßen Rot-grün (Koalitionsvereinbarung, Oktober 1998) wie jetzt Schwarz-gelb proklamieren die „bestmögliche Bildung für alle.“ Deutschland soll Bildungsrepublik werden „mit den besten Kindertagesstätten, den besten Schulen und Berufsschulen sowie den besten Hochschulen“ (Koalitionsvertrag, Oktober 2009) Dies ernsthaft in Angriff zu nehmen, hieße Abschied zu nehmen von der finanzpolitischen Lebenslüge, Deutschland könne die strukturelle Unterfinanzierung seines Bildungswesens durch Haushaltsumschichtungen beheben. Eine Erhöhung der Steuer- und Abgabenquote müsste eigentlich den finanziellen Spielraum für mehr Personal und Sachmittel schaffen. Die neue Mitte-Rechts-Regierung macht das Gegenteil. Mit neuen Steuersenkungen betreibt sie die weitere Schwächung der Finanzierungsbasis des öffentlichen Gemeinwesens. Gleichzeitig die „Bildungsrepublik“ zu verkünden, ist ein rhetorischer Schachzug nach dem Muster: Je grotesker der Widerspruch zur tatsächlich betriebenen Politik ausfällt, um so großkotziger werden die Ankündigungen.

Wo Deutschland tatsächlich steht, zeigen die EU- und OECD-weiten Vergleiche. Bei der öffentlichen Bildungsfinanzierung lag Deutschland 2006 im OECD-Raum auf Platz 24 (Education at a Glance 2009, Indikator B4.1) und innereuropäisch auf Platz 23. Die Finanzierungslücke (eigene Umrechnung auf das deutsche BIP des Jahres 2006) zu Dänemark betrug 84,4 Mrd. ¤, die zu Schweden 56,6 Mrd. ¤, die zu Belgien 36,8 Mrd. ¤ und selbst die zu Slowenien noch 30,5 Mrd. ¤. Über alle Bereiche setzt Deutschland weniger qualifiziertes Personal ein als EU- und OECD-Länder im Durchschnitt. Jedes skandinavische Land, aber kein einziges Bundesland erreicht in KITAS die fachlich empfohlenen Betreuungsrelationen von 3 bis 4 Krippen- und 6 bis 7 Kindergartenkindern auf eine pädagogische Vollzeitkraft. Gesucht werden Billiglösungen mit ErzieherInnen, die unterhalb der KITA-Leitung selten akademisch qualifiziert sind. Die personelle Unterausstattung der Primar- bis Postsekundarbildung verdeutlicht folgender Befund: 2006 kamen auf 1000 Schüler 63,3 Lehrkräfte gegenüber 76,4 im OECD- und 82,7 im EU-19-Durchschnitt. Wird zusätzlich berücksichtigt, in welchem Umfang Schulen Lehrassistenten und Unterstützungspersonal wie Sozial- und Schulpsychologen beschäftigen, fällt Deutschland noch weiter zurück. Dies auch verglichen mit Bildungsaufsteigern wie etwa Slowenien. In Slowenien kamen 2006 auf 1000 SchülerInnen 78,4 Lehrkräfte plus 7,9 Lehrassistenten plus 9,4 sonstige Unterstützungskräfte. Die Ermittlung fiktiver Beschäftigungslücken ergibt, dass das deutsche öffentliche Bildungswesen selbst gegenüber Großbritannien, wo private Schulen und Hochschulen schon traditionell eine viel größere Rolle spielen als in Deutschland, eine im Zeitablauf gewachsene Beschäftigungslücke aufweist (2002: 219,3 Tsd.; 2008 bei 375,6 Tsd.).

Ohne grundlegendes Umdenken wird es nicht möglich sein, die Negativspirale, auf der sich die deutsche Entwicklung der gesellschaftsnahen Dienstleistungsökonomie über alle Bereiche hinweg befindet, zu verlassen. Nicht der Kapitalismus oder die Globalisierung hindern Deutschland daran, einen alternativen Entwicklungspfad einzuschlagen. Es sind sehr hausgemachte Ursachen. Das Denken von den Kosten statt vom Bedarf her, ist zu nennen. Dann das altkonservative Bild vom Staat als „Wächter der Ordnung“. Deutschland scheitert an der progressiven Weiterentwicklung seines Sozialmodells, weil gesellschaftspolitisch die Familie-vor-Staat- und ökonomisch die Markt-vor-Staat-Ideologie die Entwicklung eines partnerschaftlichen Staatsverständnisses blockiert. Die Umkehr dieser Logiken birgt enormes Potential für eine neue Beschäftigungsdynamik und auch die Entschärfung gesellschaftlicher Spaltungstendenzen.

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[1] Eigene Berechnungen anhand der Datenbanken nationaler Statistikämter sowie der zentralstaatlichen Beteiligungsberichte (Stand: September 2009)

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