Die Quadratur des Zirkels

Im Saarland entschieden sich die Grünen für Jamaika. Ist das ihre neue Verortung? Nein, heißt es. Und doch: In Rostock bekannte sich die Partei zu ihrer Bürgerlichkeit

06.11.2009 / Von Michael Jäger, Der Freitag

Wohl wissend, dass eine schwarzgelbe Bundesregierung gebildet werden würde, entschieden sich die Grünen im Saarland für Jamaika. Ist das ihre neue Verortung?

Nein, nein, beeilen sie sich zu versichern. Doch man glaubt ihnen nicht leicht. Viele Beobachter haben sich auch auf dem Rostocker Parteitag nur wortakrobatisch umnebelt gefühlt. Hatten sich doch in den Wochen davor etliche Landesvorsitzende zu Wort gemeldet und erklärt, dass es keine Koalitionsfestlegung irgendeiner Art mehr geben dürfe. Man könnte glauben, der wichtige Mittelbau der Partei orientiere sich bereits unaufhaltsam nach rechts, der Basis zuliebe werde jedoch auf Bundesdelegiertenkonferenzen ein unverbrüchlich linker Anschein aufrechterhalten. Der Parteitag hat sich indes Mühe gegeben, die Frage der Selbstverortung redlich zu klären. Einen Sog nach rechts haben alle bestritten. Wenn es ihn trotzdem geben sollte, müsste er Gründe in ihrem Diskurs haben, die ihnen unbewusst sind.

Glaubwürdige Selbstsuche

Auszuschließen ist das durchaus nicht. Doch prüfen wir zuerst ihre Argumente. Sind sie wirklich eine Partei der „linken Mitte“, wie alle übereinstimmend behaupten? Man wird leicht misstrauisch, wenn man hört, wie die linke Parteivorsitzende Claudia Roth den Slogan aufgreift und radikal auslegt, zugleich aber einschärfen will, dass es über die Erfordernisse der nächsten Bundestagswahl in vier Jahren noch überhaupt gar nichts zu sagen gebe. Die Linken haben ihn auch keineswegs selbst erfunden, sondern Realos offerieren ihn in einem Antragspapier: Man kann „viele Namen finden“, lesen wir da – weil Namen eh Schall und Rauch sind? –, und so „schlagen wir vor, von der linken Mitte zu sprechen“.

Aber gerade dies Papier, das unter anderem vom hessischen Landesvorsitzenden Tarik Al-Wazir, dem neuen Europa-Abgeordneten Sven Giegold und dem neuen Bundestagsabgeordneten Tom Koenigs unterzeichnet ist, vermittelt den Eindruck einer glaubwürdigen Selbstsuche. Ganz offen bekennen sich die Verfasser dazu, Bürger zu sein, Bürger nicht bloß im Sinn von „Staatsbürger“, sondern sozialstatistisch gesehen. So aber verstehen sie sich „selbstbewusst als modernes Bürgertum, dem das eigene gute Leben wichtig, aber nicht wichtiger ist als die Chancen von Menschen, die weniger gute Startchancen haben“. Und deshalb: „linkes Bürgertum, bürgerliche Mitte“, auch „Neue Mitte“, wie Willy Brandt einst formulierte, und immer mit der Begründung, dass man „eine grüne Gerechtigkeitspartei“ sei. Für eine solche sei es nicht statthaft, die Frage rechts oder links einfach offen zu lassen, weil eine „Nicht-Aussage im Kern soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten zementiert, anstatt sie aufzubrechen“. In dieser Perspektive erklären sie dann: „Nicht jeder einzelne politische Konflikt wird heute anhand starrer politischer Lagergrenzen ausgetragen. Das heißt aber nicht, dass ‚links‘ und ‚rechts‘ als politische Orientierungsbegriffe völlig ausgedient hätten.“

Claudia Roth findet noch bessere Worte. Die französischen Grünen, sagt sie, haben mit der Losung „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ verloren, weil sie vergaßen, dass rechts/links ein „Koordinationsrahmen“ ist, „den es gibt“. Ja, das ist nicht nur eine Begrifflichkeit, sondern eine Realität, die so tief in der Gesellschaft verankert ist, dass man sie nicht ungestraft missachtet. Zu dieser in sich komplexen Analyse scheinen die Grünen jetzt erst vorgedrungen zu sein. Sie sind, wie sie sagen, gegen „linken Strukturkonservatismus“, können sich aber darüber, dass sie selbst links sind, nicht erheben und leugnen das nicht.

Mächtiges Koordinatensystem

Es ist eine Weiterentwicklung, für die tatsächlich eher der Realo- als der linke Parteiflügel verantwortlich zeichnet, denn es waren ja die Realos, die schon in den siebziger Jahren die Unhintergehbarkeit des „Koordinatensystems“ behauptet hatten. Eben daraus zogen sie damals den Schluss, den Grünen bleibe überhaupt keine andere Wahl, als mit der SPD zu koalieren. Dieser Weg war es, der sie zuletzt zu Kellnern des SPD-Kochs Gerhard Schröder machte. Dass sie sich überhaupt innerparteilich durchsetzten, obwohl anfangs die überwältigende Mehrheit mit beiden großen „Wachstumsparteien“ nichts zu tun haben wollte, ist allein schon ein Beweis für die tatsächliche Übermacht des „Koordinatensystems“. Jetzt aber, nach den Erfahrungen mit Schröder, haben sie ihren Standpunkt modifiziert. Ihr Linkssein mit der alten Kritik an beiden „Wachstumsparteien“ vereinbarend, wollen sie nun pragmatisch entscheiden, wo sich jeweils ökologisch mehr erreichen läßt, ohne aufzuhören, alle Politik, auch die ökologische, am Gerechtigkeitsanspruch zu messen.

Es ist hier nur vom Diskurs die Rede, wie er sich auch im Leitantrag des Parteivorstands und in vielen Reden niederschlug. Die Parteipraxis ist natürlich eine andere Sache. Aber vieles, was man an der Praxis von außen nicht begreift, hat doch im Diskurs seine Wurzeln – und nicht in der Sozialstatistik –, so dass es einmal erlaubt sein muss, sich einseitig nur mit ihm zu befassen.

Ein Delegierter aus Münster rechnete aus, dass sein Kreisverband ungefähr doppelt so viel an Mitgliedsbeiträgen zahlt wie der viermal größere Verband des Saarlands: Diese Besserverdienenden sind nun gerade stramm links, haben zum Beispiel den Kosovo-Krieg abgelehnt, während die Saarländer, die sich für Jamaika entschieden, offenbar nicht „das“ Beispiel für gut situierte Mittelschichten abgeben. Diejenigen in der Partei, die nach der Erfahrung mit Schröder das „Koordinatensystem“ ganz über Bord werfen wollten und immer noch wollen, sind keine Interessenvertreter des Geldbeutels, sondern unterliegen einer diskursiven Verwirrung; sie sind Realos, aber andere Realos wie Al-Wazir stellen ihren Fehler richtig und haben zusammen mit den Linken die sichere Mehrheit.

Kritik an den "Wachstumsparteien"

Eine Gefahr der Verbürgerlichung im schlechten Sinn gibt es trotzdem, und sie kommt ebenfalls aus dem Diskurs, nur teilweise aus der sozialen Bürgerlichkeit. Denn in dem Moment, wo Realos die Kritik an „Wachstumsparteien“ ein Stück weit verinnerlichen, beginnen sie zu fragen, worin genau die Kritik eigentlich bestehen kann, und finden keine Lösung. An der „Wachs­tums“-Priorität trotz allem immer noch festhaltend, müssen sie den gut funktionierenden kapitalistischen Markt für die unbestreitbarste Wahrheit halten, zumal wenn sie gut situiert sind und die Markt-Segnungen genießen. Dieser Markt funktioniert leider genau deshalb, weil er „wächst“! Das ist eine diskursive Konfusion, für „bürgerliche“ Ökologen zudem noch eine soziale Versuchung: Ob und wie sie aufgelöst wird, entscheidet über den Weg der Grünen.

Einen Gastredner haben sie zum Parteitag eingeladen: keinen Gewerkschafter, sondern den Unternehmer Jürgen Hogeforster, Gründer einer Initiative für „gleiche Chancen – gegen Auslese“. Der sagt, es sei „die Krankheit unseres Systems“, dass man an der Börse bis zu 20, in der Realwirtschaft nur bis zu fünf Prozent Rendite machen kann. Seine Schlussfolgerung: Er sei „sehr für Wachstum, aber das heutige Wachstum“ führe in die Katastrophe.

Im selben Geist fragt der Leitantrag des Parteivorstands: „Wie vereinbaren wir Wohlstand, Wachstum und die ökologischen Grenzen unseres Planeten?“ Grenzen mit „Wachstum“ kombinieren, Endlichkeit mit Unendlichkeit wohl, das ist schon wirklich die Quadratur des Zirkels.

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