Denker im Niemandsland

Durchgangskrise oder Endstadium: Miseren des Kapitals begannen stets als ökonomische Katastrophen und endeten in politischen Desastern. Wird es diesmal auch so sein?

06.03.2009 / Georg Fülberth, Der Freitag

Die Wirtschaftskrise begann am 9. August 2007, als die französische Bank BNP Paribas drei Fonds einfror, die mit faulen Krediten des US-Hypothekenmarkts behaftet waren. Es dauerte zwar etwas, aber dann kam die Stunde der Regierungen, die ihre Schirme aufspannten und Rettungspakete schnürten. Mittlerweile machen sich auch die globalisierungs- und kapitalismuskritischen Bewegungen immer stärker bemerkbar. In den Universitäten hängen Plakate, die zu Kolloquien über die Wirtschaftskrise einladen. Linke Gruppen und Parteien debattieren immer öfter, ob sie jetzt eine neue Chance haben. Ende März finden in Frankfurt am Main und in Berlin unter der Losung Wir zahlen nicht für Eure Krise! große Demonstrationen statt. Mitte Mai folgt eine Manifestation der Gewerkschaften. Schon für das kommende Wochenende ruft das Netzwerk Attac zum Kongress Kapitalismus am Ende? in die Hauptstadt.

Ist das Forum groß genug, werden wieder Denker und Deuter auftreten, die beweisen wollen, dass die derzeitige Produktionsweise entweder vor dem Zusammenbruch stehe – oder eben nicht. Die Thesen widersprechen einander, aber der leidenschaftliche Gestus wird derselbe sein. Recht dürften immerhin diejenigen behalten, die nicht von einer End-, sondern einer Durchgangskrise sprechen.

Tatsächlich ist der Kapitalismus aus jeder seiner bisherigen großen Einbrüche gestärkt und erneuert hervorgegangen, und dies nicht zuletzt wegen der Aktivität von Gegenkräften, die ihn bekämpften und seine Flexibilität herausforderten. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte lautet: Aus ihren ökonomischen Debakeln fand die bürgerliche Gesellschaft immer wieder dadurch heraus, dass sie sich in nicht-ökonomische – nämlich politische, militärische und mittlerweile auch ökologische – Katastrophen rettete.

In der Großen Depression zwischen 1873 und 1896 wurde in Mittel- und Westeuropa der Manchester-Kapitalismus durch den Organisierten Kapitalismus abgelöst. Die Arbeiterbewegungen erzwangen Reformen. Den Rahmen für diese Entwicklung gaben dieselben Nationalstaaten ab, die sich 1914 in den Ersten Weltkrieg stürzten.

Ähnlich war es 1929 und in den folgenden Jahren: Der Kapitalismus schien für viele Zeitgenossen am Ende zu sein. Gescheitert war aber nur eine neue Laissez-faire-Variante, die in Europa und den Vereinigten Staaten nach 1918 noch einmal versucht worden war. Ohne den Alarm entsetzter bürgerlicher Reformer, die Drohung der revolutionären Arbeiterbewegung und die Konkurrenz eines gerade entstehenden sozialistischen Weltsystems hätte die Kapitalistenklasse sich Roosevelts New Deal und den keynesianisch organisierten Wohlfahrtskapitalismus ab 1945 vielleicht doch nicht gefallen lassen. Und die Katastrophe ist ja nicht ausgeblieben: erst Faschismus und Zweiter Weltkrieg, dann die ständige und gefährliche Hochrüstung nach 1945 sowie der Raubbau an den natürlichen Ressourcen des Planeten: Sie bildeten die andere, die dunkle Seite dieses „goldenen Zeitalters“ eines stärker regulierten Kapitalismus.

Die Weltwirtschaftskrise von 1975 war die Voraussetzung der jetzigen. Erhebliche Kapitalmassen verschwanden in der Zirkulation der Finanzmärkte und fragten weniger Arbeitskraft nach als vorher. Die dritte industrielle Revolution gab dem Kapital die Chance, die überraschten Gewerkschaften auszumanövrieren. Wieder einmal entfesselte der Kapitalismus seine Märkte. Diese Zügellosigkeit hat ihm in der Vergangenheit zwar noch nie lange gut getan. Aber es führte doch auch zu einer Mobilisierung neuer Ressourcen und „Produkte“, vom Handy bis zur Risiko-Anlage mit hoher Rendite-Erwartung.

Das geht jetzt wohl nicht so weiter. Aber fast alle wissen, dass der Kapitalismus nicht am Ende ist. Karl Marx nannte 1859 den Grund dafür: „Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“

Das Gremium der G20 will nun Anfang April neue Verkehrsregeln entwerfen, damit sich das Kapital in Zukunft mit weniger Risiko in der Zirkulation bewegen kann. Wie letzteres dabei mehr als während der vergangenen dreißig Jahre zur Produktion nützlicher, vor allem auch öffentlicher Güter führt und sich darüber hinaus in Lohn und unvermeidliche Transferleistungen verwandelt – dies steht leider nicht auf der Tagesordnung dieses Treffens der 20 wichtigsten Industrienationen. Hier sind sicher vor allem Attac und seine Verbündeten gefragt.

Vielleicht werden sie noch eine weitere Frage bedenken: Die bisherigen großen Krisen des Kapitals begannen als ökonomische Katastrophen und endeten stets in der einen oder anderen Form in politischen, ökologischen und militärischen Desastern. Welches Desaster wird es diesmal sein? Die Regierungen sind ausschließlich mit kurzfristig angelegten Rettungsaktionen beschäftigt. Niemand denkt an das große Ganze. Es ist die Stunde für andere, für neue Ideen aus der Zukunftswerkstatt.