Und schon wieder versagt die Politik

Mit der Schuldenbremse ist weitere gesellschaftliche Spaltung vorprogrammiert

11.02.2009 / Von Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup*

Nach einer Übergangsphase, die 2011 beginnt, sollen ab 2020 die Haushalte der Bun­desländer in „normalen“ Konjunkturzeiten keine Schulden mehr machen dürfen. Für die Übergangszeit von 2011 bis 2020 plant man die Neuverschuldungen stufenweise zu­rückzuführen. Die armen Bundesländer erhalten zur Begleichung ihrer Altschulden neun Jahre lang Geld aus einem Topf von Bund und reichen Ländern. Dem Bund erlaubt man zukünftig noch eine maximale Neuverschuldung bis 0,35 Prozent bezogen aufs Bruttoinlandsprodukt pro Jahr. Dies wären heute etwa rund 8,5 Milliarden Euro. Ein solch niedriger Wert wurde in den letzten 18 Jahren seit der Wiedervereinigung in kei­nem Jahr auch nur annähernd erreicht. Die jahresdurchschnittliche Verschuldung des Bundes lag zwischen 1991 und 2008 bei 29,8 Milliarden Euro und die Verschuldung inklusive der Länder, Gemeinden und Sozialversicherung bei jahresdurchschnittlich 45,4 Milliarden Euro. Die von der Föderalismuskommission II gemachten Vorgaben gel­ten dabei nicht für jedes einzelne Jahr, sondern für einen Konjunkturzyklus. Im Ab­schwung dürfen Bund und Länder noch einen Kredit aufnehmen, der aber im nächsten Aufschwung sofort zurückzuzahlen ist. Ausnahmen sind nur noch für Naturkatastrophen und schwere Wirtschaftskrisen, wie beispielsweise in der jetzigen Weltwirtschaftskrise vorgesehen. Das ganze Werk sei eine „Sternstunde des Föderalismus“, so der SPD-Fraktionschef Peter Struck, und soll verfassungsmäßig im Grundgesetz festgeschrieben werden. Kommt es zu dieser „fundamentalen Weichenstellung“ (Bundeskanzlerin Ange­la Merkel (CDU)), zu einer solchen „Wetterwende“ (Horst Seehofer (CSU)), und das Ganze geht im Sommer durch den Bundestag und Bundesrat, dann findet quasi Wirt­schaftspolitik in Deutschland, dem wirtschaftlich größten Land in der EU, nicht mehr statt.

Wirtschaftspolitik besteht immer aus zwei Säulen. Der Geld- und der Fiskalpolitik. Die Geldpolitik wurde mit dem Euro bereits nationalstaatlicher Kontrolle entzogen. Jetzt schaffen CDU/CSU und SPD mit Unterstützung der FDP und Bündnis 90/Die Grünen auch noch die den Euroländern verbliebene Fiskalpolitik in Deutschland ab. Denn mit der geplanten „Schuldenbremse“, sinnvoller wäre eine „Steuersenkungsbremse“ für Deutschland (Peter Bofinger), ist in Zukunft eine seriöse und rationale antizyklische Fis­kalpolitik nicht mehr möglich. Bei 8 Milliarden Verschuldungsspielraum reicht es nicht einmal mehr aus die automatischen Konjunkturstabilisatoren voll wirken zu lassen. Hier verzichtet der Staat bei einem Wachstumseinbruch darauf, die wegbrechenden Steuer­einnahmen durch entsprechende Staatsausgabensenkungen zu kompensieren. Kein anders EU-Land verhält sich wirtschaftspolitisch so borniert wie die Deutschen. Selbst die neoliberal ausgerichtete EU erlaubt im „Europäischen Stabilitäts- und Wachstums­pakt“ eine Neuverschuldung in Höhe von 3 Prozent. Dieser „Pakt“ ist von dem ehemali­gen Kommissionspräsidenten und Wirtschaftswissenschaftler Romano Prodi zu Recht als „dumm und töricht“ bezeichnet worden. Der Staat ist nun einmal „Gefangener“ und gleichzeitig „Akteur“ auf dem kapitalistischen „Spielfeld“. Er wird unweigerlich mit in den

Sog einer jeden immanent den Marktgesetzen unterliegenden Konjunktur gezogen. Will sich der Staat hier nicht prozyklisch, also krisenverschärfend verhalten, so bleibt im Ab­schwung nur die konjunkturbedingte Staatsverschuldung hinzunehmen, die sich im Auf­schwung wieder abbaut.

Strukturelle, überzyklische, Staatsverschuldung ist hiervon unabhängig zu sehen. Diese kann nur durch eine adäquate Steuererhebung und durch Abgaben bekämpft werden. Hier haben in Deutschland neoliberale Politiker den Staat durch Privatisierungen und völlig überzogene Steuersenkungen für Unternehmer und Vermögende bei gleichzeiti­gen Sozialkürzungen vor die Wand gefahren. Die Senkung der Staatsquote wurde zum deutschen Mantra. Das meiste der insgesamt aufgelaufenen Staatsverschuldung in Hö­he von rund 1,5 Billionen Euro, dies sind etwa 60 Prozent einer von unserer Volkswirt­schaft erbrachten jährlichen Leistung, ist dabei nicht nur einer falschen widersprüchli­chen kapitalistischen Ökonomie, sondern auch einer falschen Politik geschuldet. Au­ßerdem muss man bei der aufgelaufenen Staatsverschuldung den Sonderfall der Wie­dervereinigung berücksichtigten. Diese wurde nicht adäquat durch Steuererhöhungen, sondern weitgehend auf Pump finanziert.

Was die Politik seit langem an Begründungen für die jetzt geplante „Schuldenbremse“ bietet, kann man allerdings nur noch als ökonomisches „Nirwana“ bezeichnen. Da wird mit übelster Polemik argumentiert und Volksverdummung betrieben: Ein „privater Haus­vater“ könne auch nicht permanent mehr ausgeben als er einnimmt. Hierbei wird, übri­gens wie bei den Löhnen, einzelwirtschaftliche und gesamtwirtschaftliche Ökonomie verwechselt. Genauso wie viele Politiker offensichtlich nicht verstanden haben, dass Löhne, genauer Lohnstückkosten, nicht nur Arbeitskosten, sondern auch Arbeitsein­kommen sind, genauso haben sie nicht verstanden, dass da wo ein Schuldner ist, im­mer auch ein Gläubiger sein muss. Bei einer Staatsschuld wird deshalb nicht nur die Verbindlichkeit, die Schuld, vererbt, sondern ebenso die dahinterstehende Forderung, das Vermögen. Dies inklusive der Zinsen. Diese Zahlungen führen allerdings zu einer Umverteilung von unten nach oben, weil der Staat sich in der Regel bei vermögenden Staatsbürgern verschuldet, fällige Zinsen aber aus dem allgemeinen Steueraufkommen begleicht. Dennoch wird auch hier von neoliberalen Polemikern die Kausalität auf den Kopf gestellt. Denn: Zinseinkommen entstehen dadurch, dass einzelne private Haushal­te in der Lage sind, Ersparnisse zu bilden. Aus der Staatsverschuldung folgt somit kein Gerechtigkeitsproblem, das nicht mit Blick auf die vorhandenen Einkommens- und Ver­mögensdisparitäten bereits, auch ohne Staatsverschuldung, bestanden hätte.

Ohne Schuldner und Gläubiger könnte in einer Volkswirtschaft niemand Überschüsseerwirtschaften. Das Defizit des einen ist notwendigerweise der Überschuss des ande­ren. Am Anfang wirtschaftlicher Entwicklung steht immer der Kredit. Dies zeigen regel­mäßig die Finanzierungssalden der Wirtschaftssektoren in der volkswirtschaftlichen Ge­samtrechung, die in Summe immer gleich Null sind. Die privaten Haushalte bilden hier hohe Finanzierungsüberschüsse (Geldvermögensbildung minus Kreditaufnahme) – sie­he diesbezüglich auch die hohe deutsche gesamtwirtschaftliche Sparquote bezogen auf das verfügbare Einkommen in Höhe von gut 11 Prozent. Insbesondere der Staat, neben den Unternehmen und das Ausland, gleichen die Finanzierungsüberschüsse, die Forde­rungen als Kreditnehmer aus. Will ein Staat diese Überschüsse nicht, wie in der Ver­gangenheit, über Schulden zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben abschöpfen, und diese als staatliche Nachfrage in den Wirtschaftskreislauf zurückpumpen, so muss er, wie schon angeführt, mehr Steuern und Abgaben erheben und er muss vor allen Din­gen die Massenarbeitslosigkeit beseitigen. Auf jeden Fall darf er die Steuern nicht sen­ken. Schon gar nicht für Unternehmen und Vermögende. Und er darf auch nicht auf Vermögensteuern und z.B. auf eine Börsenumsatzsteuer verzichten und eine „Erb­schaftsteuerreform“ machen, die alles ist, nur keine Reform.

Auch das immer wieder von neoliberalen Politikern und Ökonomen betonte „Generati­onsargument“, wir würden mit Staatsverschuldung auf Kosten zukünftiger Generationen leben, ist ökonomisch lächerlich. Es ist generationsübergreifend sinnvoll, die allokativ genutzte Schuldenaufnahme an das Ausmaß der öffentlichen Investitionen zu binden. Solange dann künftige Generationen Nutznießer der heute getätigten öffentlichen In­vestitionen (etwa zugunsten der Umwelt, der Bildung oder öffentlichen Infrastruktur) sind, bietet nur die Staatsverschuldung die Möglichkeit, diese an der Finanzierung zu beteiligen. Hier gilt das richtige Prinzip „pay as you use“. Der Finanzwissenschaftler Lo­renz von Stein betonte schon 1878 zu Recht: „Ein Staat ohne Staatsschuld tut entweder zu wenig für seine Zukunft oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“ Übrigens kommt das Scheinargument der Generationengerechtigkeit ausgerechtet von den Poli­tikern und Parteien, die seit über dreißig Jahren unfähig waren und nach wie vor sind, sich mit den Problemen und Sorgen der Bürger und Bürgerinnen zu beschäftigen, die heute „leben“. Wie wäre es mit der Lösung des größten Gegenwartsproblems, der seit langem bestehenden „Geißel“ Massenarbeitslosigkeit und der leidbringenden prekären Beschäftigungsverhältnisse sowie der bestehenden Armut, inkl. der Kinderarmut, in Deutschland? Diese wirklichen Probleme bekommt man allerdings nicht gelöst, wenn man, wie seit Mitte der 1970er Jahre, eine neoliberale Wirtschaftspolitik betreibt, die nur eins im Schilde führt und auch brutal umgesetzt hat: nämlich eine Umverteilung von unten nach oben.

Wer „Schuldenbremsen“ und den Abbau von Staatsverschuldung fordert, muss ab­schließend die Frage beantworten, wer denn zukünftig dies finanzieren soll: Das Kapital mit seinen Profitansprüchen oder die abhängig Beschäftigten, Rentner, Arbeitslose und/oder Sozialhilfeempfänger mit ihren Einkommensansprüchen? Die Weichen zur Beantwortung dieser Frage sind offensichtlich in Deutschland mit der „Schuldenbremse“ gerade gestellt worden. Mit Sicherheit nicht das Kapital! Man wird die Arbeitslosen und die Schwächsten der Gesellschaft noch mehr zur Kasse bitten und somit eine noch größere soziale und ökonomische Spaltung in unserem Land herbeiführen. Offensicht­lich haben Politiker aber nicht einmal die bereits bestehende Spaltung realisiert. Sie sollten diesbezüglich den zweiten amtlichen Reichtums- und Armutsbericht studieren oder sich zumindest „Suppenküchen“ in Deutschland anschauen.


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*Wirtschaftswissenschaftler an der FH Gelsenkirchen und Mitglied der Arbeitsgruppe Alter­native Wirtschaftspolitik