Historische Systemkrise

Ein Zusammenbruch des Arbeitsmarktes ist denkbar, weil Hilfen des Staates nur die Kernbelegschaften der Großunternehmen erreichen.

07.02.2009 / Von Robert Kurz, Der Freitag (www.freitag.de)


Gibt es eine Weltwirtschaftskrise mit stabilen Arbeitsmärkten? Die Bundesregierung hofft anscheinend immer noch auf die Quadratur des Kreises in dieser Hinsicht. Aber pünktlich zum Start des Krisenjahrs 2009 ist die Arbeitslosenzahl innerhalb weniger Wochen um eine halbe Million gestiegen. Wenn schon im Januar alle Befürchtungen übertroffen werden, kann man sich die weitere Entwicklung ausmalen. Gegen das Wegbrechen der Exportaufträge und der Inlandsnachfrage ist kein Kraut gewachsen. Trotz einer Rekord-Neuverschuldung von 50 Milliarden Euro gleichen die Konjunkturprogramme dem Versuch, eine Lawine mit vorgehaltenen Aktentaschen zu stoppen. Die mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Abwrackprämie hat sich bereits als Rohrkrepierer erwiesen; der Absatz von Autos stürzt in einem nie da gewesenen Ausmaß ab. Quer durch das gesamte Branchenspektrum häufen sich die Hiobsbotschaften, obwohl die globale Kettenreaktion der konjunkturellen Abwärtsspirale noch gar nicht in vollem Umfang wirksam geworden ist.

Massenentlassungen bei den Zulieferern

Noch immer wird so getan, als hätten wir es mit einer vielleicht etwas größeren gewöhnlichen Konjunkturdelle zu tun. Tatsächlich ist das „finanzgetriebene Wachstum“ von mehr als zwei Jahrzehnten zum Stillstand gekommen. Die fiktiven Gewinne auch des industriellen Sektors aus den Aktien- und Immobilienblasen lösen sich in Rauch auf. Die davon genährte Defizitkonjunktur war aber schon ein indirektes welt-keynesianisches Rettungsprogramm, das trotz langfristig steigender Sockelarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung auch die Arbeitsmärkte relativ stabilisiert hatte. Nur deshalb konnten die Konzerne Kernbelegschaften halten, auch wenn diese in einem schleichenden Prozess abgebaut wurden. Die jetzt um sich greifende Kurzarbeit zeigt, dass diese Stabilisierung zu Ende geht. Zwar will die Bundesregierung durch Verlängerung des Kurzarbeitergelds den Dammbruch verzögern, aber ein solche Subventionierung lässt sich bestenfalls einige Monate durchhalten. Von der Kernbeschäftigung in den Konzernen hängen Millionen Arbeitsplätze in den Zulieferbetrieben und bei den Dienstleistungen ab. Hier wird es kein Zwischenstadium der Kurzarbeit geben, sondern den direkten Übergang zu Massenentlassungen.

Selbst als die Defizitkonjunktur ihren Zenit erreichte, waren die Gewerkschaften viel zu zahm, um wenigstens bei den Kernbelegschaften einem Verfall des Lohnniveaus ernsthaft entgegenzutreten. In der Weltwirtschaftskrise versprechen nun die anstehenden Tarifrunden, zum Trauerspiel zu werden, wenn die Konkurrenz um verbleibende Arbeitsplätze mit Zähnen und Klauen ausgetragen wird, während die kapitalkonforme Anbindung der eigenen Forderungen an das Gewinnwachstum ihren Gegenstand verliert. Jetzt sind auch die „aristokratischen“ Kernbeschäftigten in ihrer Arbeitsexistenz nur noch „Tote auf Urlaub“; nicht mehr bloß in Form einer langsamen Ausdünnung, sondern großflächig. Wenn es die einst stolzen Banker massenhaft aufs Pflaster wirft, warum sollte da das produzierende Gewerbe verschont bleiben, das schon längst nicht mehr selbsttragend war, sondern zuletzt nur noch von der irregulären Kaufkraft aus den Finanzblasen gelebt hatte.

Geschönten Statistiken schlägt die Stunde der Wahrheit

Wenn Rettungspakete und Konjunkturprogramme den Einbruch der Kernbeschäftigung bestenfalls um Monate verzögern können, ist das Schicksal der Randbelegschaften noch weitaus kurzfristiger absehbar. In allen Industriestaaten schlägt jetzt die Stunde der Wahrheit für die geschönte Arbeitslosenstatistik. Den Krisenverwaltungen wird vermutlich schneller als gedacht das Geld für Maßnahmen ausgehen, mit denen Langzeitarbeitslose, Ältere oder Behinderte in die Warteschleife abgeschoben wurden.

Mehr denn je droht millionenfache Billigbeschäftigung in einer bisher kaum vorstellbaren Größenordnung unterzugehen. Wie kein anderes europäisches Land hat die BRD einen riesigen, gesellschaftspolitisch gewollten Billiglohn-Sektor hervorgebracht. Spiegelbildlich zur immer einseitigeren Exportorientierung wurde der Arbeitsmarkt in einen weitgehend globalisierten Sektor der schrumpfenden Normalarbeit und einen rapide wachsenden Binnensektor der Prekarisierung gespalten. Offenbar besteht die Absicht, in der Krise den ersten Sektor mühsam über Wasser zu halten und den zweiten unter nochmals verschlechterten Bedingungen weiter auszudehnen. So soll die in Aussicht gestellte Mindestlohnregelung für Zeitarbeiter wieder zurückgenommen werden.

Geht schon die erste Rechnung nicht auf, so die zweite noch weniger. Die ungeschützten Zeit- und Leiharbeiter, die geringfügig und in Teilzeit Beschäftigten, Scheinselbstständigen und Ein-Euro-Jobber springen als erste über die Klinge – VW hat bereits eine Entlassungswelle bei der Leiharbeit angekündigt; und das ist noch die Crème der Billigbeschäftigung. Es wäre ein Wunder, wenn ausgerechnet die vielen würdelosen Dienstleistungsklitschen vom Friseur- bis zum Reinigungsgewerbe am Leben blieben. Ein Zusammenbruch der Arbeitsmärkte auf breiter Front ist denkbar geworden. Sogar die Wirtschaftswoche hat ein Worst-Case-Szenario entwickelt, das in Deutschland bis 2013 einen Fall des Bruttoinlandsprodukts um 15 Prozent und eine Arbeitslosenzahl von acht Millionen für möglich hält. Es geht nicht mehr um einen Abschwung – es geht um eine historische Systemkrise, die mit dem Vorstellungsvermögen und dem Instrumentenbesteck von Merkel, Steinbrück und Glos nicht mehr zu bewältigen ist.