Die westliche Wende

06.02.2009 / Von Harry Nick, Neues Deutschland

Gibt es einen singulären Grund, einen Urgrund sozusagen, von dem aus die Vielfalt von Ursachen, Faktoren, Bedingungen, die herumgereicht werden, um die Krise zu erklären, plausibel wird? Gibt es einen Archimedischen Punkt, von dem aus die Krisenursachen ausgehebelt werden könnten?

Es gibt ihn! Nur ist er in den Verlautbarungen der Regierungsparteien und der Offizial-Theorie selbst in Andeutungen nicht zu finden und auch in kapitalismuskritischen Äußerungen oft nur als eine von mehreren Ursachen benannt. Dabei ist dieser Urgrund aller Wirtschaftskrisen seit 150 Jahren bekannt, gefunden von Karl Marx. Er nannte ihn »Das allgemeine Gesetz kapitalistischer Akkumulation«, die Akkumulation von Reichtum auf einem Pol und die Akkumulation von Armut auf dem sozialen Gegenpol.

Es ist Zeit, die wirtschaftliche und soziale Wende in den kapitalistischen Industriegesellschaften Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre in das öffentliche Bewusstsein aufzunehmen. Der englische Historiker und Marxist Eric Hobsbawm beschrieb sie als den Übergang vom »Goldenen Zeitalter des Kapitalismus« der Nachkriegsjahrzehnte zu einem neuen Krisenzeitalter. Diese Wende trat ein, als offenbar wurde, dass der soziale Herausforderer des westlichen Kapitalismus im ökonomischen Wettbewerb unterliegen werde. Das markanteste Merkmal dieser Wende ist, dass seitdem mehr als der gesamte Zuwachs materiellen Reichtums allein den Reichen zufließt. Diese Wende war das Ende des sozialen Aufstiegs der Mitte.

Dass dies auch wirtschaftlich auf die Dauer nicht gut gehen konnte, wurde von wenigen weitsichtigen Ökonomen frühzeitig prognostiziert, zum Beispiel von Lester Thurow in seinem Buche »Die Zukunft des Kapitalismus« (1996). Die soziale Polarisierung müsse zu finanziellen Blasen führen, von denen nur nicht sicher sei, ob sie sich in einer Kaskade mittlerer Kräche oder in einem großen Krach entladen würden. Die mittleren Kräche hat es zahlreich und fast regelmäßig gegeben. Da die von ihnen ausgesandten Signale aber ignoriert wurden, das Geldschaufeln von unten nach oben anhielt, musste es schließlich zum jetzigen großen Knall kommen.

Das nach oben geschwemmte Geld, das wegen hinkender oder gar stagnierender Massenkaufkraft nur schwer zur Realwirtschaft findet, kann zum Großteil nur ins Geldsystem selbst fließen, muss hier Blasen bilden, die spekulativ weiter aufgeblasen werden.

Auf Biegen und Brechen, elementare Regeln rationellen Wirtschaftens und elementare Moralgebote, auf die auch eine Marktwirtschaft angewiesen ist, beiseite schiebend, sucht sich dieses vagabundierende Geld im globalen Raum profitable Anlagen: in forcierter Privatisierung öffentlicher Güter und der Daseinsvorsorge; in neuen Finanzinstrumenten, die alle darauf hinauslaufen, elementare Regeln der Kreditwirtschaft wie minimales Eigenkapital der Banken und minimale Bonität der Kreditnehmer außer Kraft zu setzen; in neuen Möglichkeiten schneller Bereicherung durch neue Spielarten von Spekulation. Das alles geht eine Weile gut und bereichert die Reichen. Führt aber unvermeidlich zum Kollaps. Die Neoliberalen sehen den Ausweg aus der Krise nicht, weil sie ihn nicht wollen, wegen ihrer Interessenbindung nicht wollen dürfen. Die Stärke der Linken besteht auch hier darin, dass sie die wirkliche Ursache offen benennen und politisch bekämpfen kann. Das ist die wirkliche Alternative und viel mehr als ein konkurrierendes Zukunftsinvestitionsprogramm.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.