Die Systemkrise kommt im Eiltempo

US-Regierung und Notenbank können Spekulationsverluste nicht grenzenlos sozialisieren

16.09.2008 / Von Michael R. Krätke, Neues Deutschland

Mit dem Banken- und Börsenkrach zu Anfang dieser Woche kommt ein Ende in Sicht. Aber nicht das Ende der internationalen Finanzkrise, die vor gut einem Jahr als Hypothekenkrise begann und inzwischen die Kapitalmärkte weltweit erschüttert.

Das böse Spiel wiederholt sich nun seit Monaten: Das eine oder andere Schwergewicht unter den Finanzinstituten kommt ins Wanken, der Staat bzw. die Notenbank oder andere Finanzinstitute »retten« den Bankrotteur vor der Pleite. Sofort verkünden fast alle im Chor das Ende der Krise, alles unter Kontrolle, kein Grund zur Panik. Wenige Tage oder Wochen später geht das Spiel von Neuem los. Nun haben wir wieder den vorläufig letzten Höhepunkt der internationalen Finanzkrise erlebt.

Es geht weiter und es kommt noch schlimmer. Das wahre Ausmaß der Verluste aus der Finanzkrise kennen wir noch lange nicht. Sie sind aber gewaltig, da die Krise längst sämtliche Sektoren und Segmente des Bank- und Börsenhandels erfasst hat. Im Moment werden alle Möglichkeiten, Verluste zu verschleiern und über viele Monate hinweg zu verschweigen, ohne Skrupel ausgereizt; Fannie Mae und Freddie Mac waren nicht die Letzten, die bei Bilanzmanipulationen erwischt wurden. Vor allem aber sind die Retter so langsam am Ende, die finanziellen Grenzen kommen in Sicht. Auch die US-Regierung und die US-Notenbank können Spekulationsverluste nicht grenzenlos sozialisieren. Denn das geht ins Geld, bringt die USA auf die Dauer um jeden Kredit und den Dollarkurs ins Bodenlose.

Vor wenigen Tagen erst wähnte sich die Finanzwelt gerettet. Als die US-Regierung die beiden weltgrößten Hypothekenfinanzier Fannie Mae und Freddie Mac de facto verstaatlichte, jauchzten die Börsen. Nach einem Tag war die Ernüchterung da. Auch der Dümmste konnte begreifen, dass sich die US-Regierung, bereits mit über 9 Billionen Dollar hoch verschuldet, diesmal übernommen hat. Die Last von noch einmal 6 Billionen Dollar an ausstehenden Schulden von Fannie Mae und Freddie Mac, davon über 3,7 Billionen an »strukturierten« Anleihepapieren, kann sie unmöglich schultern. Deshalb weigerte sich die Regierung, die Investmentbank Lehman Brothers zu retten, wie sie Bear Stearns im März noch gerettet hat. Einige Großbanken wie Barclays sprangen ab, als die US-Regierung erklärte, sie würde ihnen für die Übernahme der bankrotten Bank keine Milliardengeschenke machen. Jetzt gibt es die erste veritable Milliardenpleite eines traditionsreichen Bankhauses, das bisher als Säule der finanziellen Stabilität galt.

Etliche Säulen des US-amerikanischen Finanzsystems sind schon weggebrochen. Innerhalb weniger Monate sind elf größere und kleinere Banken gefallen, von den einst großen Fünf der Investmentbanken an der Wall Street sind nur noch zwei übrig. Zwei der weltweit größten Hypothekenfinanzierer sind verstaatlicht worden – nach dem Beispiel der britischen Northern Rock. Nur ist das Ganze diesmal viele Nummern größer und unvergleichlich kostspieliger – gut 300 Milliarden Dollar kostet der Spaß mindestens. Darüber hinaus bettelt einer der weltweit größten Versicherungskonzerne, die American International Group (AIG), bei der US-Regierung um Staatsknete. Mindestens 40 Milliarden Dollar will sie haben, um weiterwursteln zu können. Der bürgerliche Sozialismus, der Staatssozialismus für Kapital- und Vermögensbesitzer auf Kosten der Allgemeinheit der Steuerzahler, marschiert.

Die US-Notenbank Fed ist eingesprungen. Ihr Chef Ben Bernanke verkündet mit Sorgenfalten im Gesicht, er werde den Banken mehr Liquidität zur Verfügung stellen. Im Klartext heißt das, dass nun noch mehr Geld in den Kapitalmarkt gepumpt wird, die Geld- und Kreditschöpfungsmaschine Fed läuft auf Hochtouren – wie schon seit Monaten. Wie Bernanke weiter ankündigte, wird die Notenbank noch mehr und andere Wertpapiere als Sicherheiten für ihre Kredite akzeptieren. Mit anderen Worten: Sie nimmt fortan so gut wie alles, auch Ramschpapiere, die auf den internationalen Finanzmärkten nichts mehr wert sind und keine Käufer mehr finden, sich daher bei den spekulationsfreudigen Banken stapeln. Wo es der Markt nicht mehr richtet, springt die Fed ein – mit Krediten, denen im Zweifelsfall wertlose Sicherheiten gegenüberstehen.

Noch alarmierender ist der Beschluss von zehn international operierenden Großbanken (darunter die Bank of America – die gerade Merrill Lynch geschluckt hat –, die Deutsche Bank, die Citigroup, Morgan Stanley, Goldman Sachs, Crédit Suisse und die UBS), zusammen einen Notfonds im Umfang von 70 Milliarden Dollar aufzulegen. Das zeigt, dass sie der US-amerikanischen Einlagensicherung nicht mehr trauen, deren Reserven dahin schmelzen. Die nächste Großpleite kann das Aus auch für sie bedeuten, dann muss wieder Uncle Sam ran.

Wir leben in einem internationalen Finanz- und Währungssystem, in dem der US-Dollar die Rolle des Weltgeldes spielt. Darauf beruht die ökonomische und finanzielle Vormachtstellung der USA. Die US-Regierung und die US-Notenbank spielen daher in jeder internationalen Finanzkrise die Rolle des letzten Kreditgebers, ob ihnen das gefällt oder nicht. Sie können diese Rolle aber nur so lange spielen, wie der Rest der Welt bereit ist, US-amerikanische Staatsschuldpapiere zu kaufen und zu halten. Dieser wird zusehends nervös, wie der erneute Absturz des Dollars und die Panik an den asiatischen und europäischen Börsen zeigen. In der Tat: Das Schicksal des Dollar und damit der Hegemonie der US-Wirtschaft wird in Peking (und anderswo) entschieden. Die Systemkrise des »Finanzmarktkapitalismus« kommt im Eiltempo.

Unser Autor ist Professor für Politikwissenschaft und Ökonomie an der Universität von Amsterdam. Er hat gerade das Buch »Die größte Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft (1929-1935): Eine marxistische Erklärung« von Otto Bauer (VSA-Verlag) herausgegeben.

Lehman Brothers

Die Brüder Heinrich, Emmanuel und Mayer Lehman, Söhne eines Viehhändlers aus der Nähe von Würzburg, gründeten im Jahr 1850 im US-Bundesstaat Alabama das Bankhaus Lehman Brothers. Nach dem Bürgerkrieg wurde der Sitz nach New York verlegt, 1889 ging die Bank an die Börse. Nach der schweren Bankenkrise Anfang der 1980er Jahre wurde Lehman von American Express gekauft. 1994 wurde man wieder eigenständig – als reine Investmentbank, die auf Wertpapiergeschäfte und Unternehmensfusionen spezialisiert war. Im Mai 2007 kaufte Lehman das zweitgrößte US-Immobilienunternehmen Archstone-Smith. Das starke Engagement am US-Hypothekenmarkt sorgte nach dessen Zusammenbruch für milliardenschwere Verluste. ND

Merrill Lynch

Die Investmentbank Merrill Lynch ist ein Eigengewächs der Wall Street. 1914 wurde sie von Charles E. Merrill in New York gegründet. Kurz darauf trat Edmund C. Lynch ein. Der Börsengang erfolgte 1971. Die rund 1,4 Billionen Dollar schwere Vermögensverwaltung wird seit 2006 gemeinsam mit dem Finanzinvestor BlackRock geführt. Merrill Lynch hat 60 000 Mitarbeiter und ist in 40 Ländern aktiv. Wegen der Hypothekenkrise musste die Bank schon vergangenes Jahr Wertberichtigung von 23,7 Milliarden Dollar vornehmen. Im Oktober 2007 wurde der frühere Chef der New Yorker Börse, John Thain, Bankenchef. ND

Bank of America

Die Wurzeln der Bank of America reichen bis ins Jahr 1784 zurück. Die Geschichte war geprägt von zahlreichen Übernahmen und Fusionen. Unter dem heutigen Namen firmiert sie erst seit 1998. Die Bank of America mit Sitz in Charlotte (Bundesstaat North Carolina) ist ein klassisches Einlagen- und Kreditinstitut. Mit über 200 000 Mitarbeitern und 6000 Filialen gehört sie zu den größten Banken in den USA. ND