Erhards Soziale Marktwirtschaft ist am Ende

Essay

08.08.2008 / Von Michael Sommer , DGB,Erschienen in "Die Welt", 6. August 2008


Derzeit feiern konservative Ökonomen und Politiker den 60. Jahrestag der Sozialen Marktwirtschaft und ihren angeblichen Übervater Ludwig Erhard. Auch ich bezweifle nicht die Vorteile einer sozialen Marktwirtschaft. Aber die Feiern und öffentlichen Bekenntnisse für eine Renaissance der Erhardschen Sozialen Marktwirtschaft klingen in den Ohren der meisten Menschen hohl, wenn nicht gar verlogen. Denn das Experiment, Marktwirtschaft mit sozialem Ausgleich menschenwürdig zu gestalten, droht zu scheitern: An unregulierten Finanzmärkten, an wirtschaftsliberalen Politikern in Berlin und Brüssel, an Managern sowie am Europäischen Gerichtshof, die allesamt die Freiheit des Marktes vor Arbeitnehmerrechte und Würde der Menschen setzen. Das Soziale an der Sozialen Marktwirtschaft verkommt zum überflüssigen Anhängsel darüber kann auch keine Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hinwegtäuschen. Wir sind auf dem Weg in einen neuen, ungezügelten Kapitalismus weit vorangeschritten.

Die Menschen spüren das genau und sind empört. Zwei von drei Deutschen zweifeln an unserer Wirtschaftsordnung. Die Gründe liegen auf der Hand: Die großen Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft werden nicht mehr eingelöst: Leistung lohnt sich für Millionen Niedriglöhner und viele andere nicht mehr. Und Wohlstand für alle ist längst eine Illusion. Die gesellschaftliche Spaltung nimmt zu. Die Reichen werden reicher, die Armen werden mehr. Die Einkommensschere geht weiter auseinander, die Mittelschicht bröckelt. Anstelle der Hoffnung auf sozialen Aufstieg beherrscht immer mehr Menschen die Furcht vor sozialem Abstieg und Hartz IV.

Nebenbei bemerkt: Dies ist durchaus mit dem ordoliberalen Grundverständnis von Ludwig Erhard in Einklang zu bringen. Er war nicht der Sozialpapst, zu dem viele ihn heute hochstilisieren. So wollte Erhard die Gewerkschaften unter das Kartellgesetz zwingen. Er hielt die Mitbestimmung - international das Gütezeichen unserer einst sozialeren Marktwirtschaft - für unvereinbar mit dem freien Markt. Deswegen kämpfte er gegen das Montan-Mitbestimmungsgesetz von 1951. Das wurde aber nach gewerkschaftlichen Streikdrohungen gegen die Adenauer-Regierung dennoch durchgesetzt. Auch sein Widerstand gegen die Einführung der dynamischen Rente war zum Glück aller Rentner erfolglos. Kurzum: Für Erhard war der wirtschaftliche Erfolg das eigentlich Soziale an der Marktwirtschaft, weil er angeblich auch den Beschäftigten zugute kommt.

Heute stellen wir fest, dass dies realitätsfern ist: Erstmals in einem Aufschwung sinken die Realeinkommen. Was für Aktionäre und Management gut ist, müssen häufig die Beschäftigten bezahlen. Milliardengewinne nationaler und internationaler Konzerne gehen einher mit Massenentlassungen und Lohndrückerei. Für die Beherrschung der Immobilienkrise müssen Banken und Steuerzahler allein in Deutschland einen zweistelligen Milliardenbetrag aufbringen. Das scheint keine Probleme zu bereiten. Aber Geld für dringend notwendige, deutlich höhere öffentliche Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur ist angeblich nicht da. Es stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob die Soziale Marktwirtschaft Erhardscher Prägung in der Krise ist, sondern ob die sterbenskranke Patientin überhaupt noch gerettet werden kann und soll.

Die Gewerkschaften haben nie das ordoliberale Credo Ludwig Erhards und seiner Vordenker geteilt. Sie haben in den 50er und 60er Jahren erfolgreich den politischen Durchmarsch der Erhards, Müller-Armacks und Euckens verhindert. Deshalb wurde aus der Idee der Sozialen Marktwirtschaft kein ordoliberales Wunschkonzert, sondern ein politischer Kompromiss. Dieser Kompromiss eines sozial regulierten Kapitalismus ist spätestens in den 90er Jahren von Teilen der Wirtschaft und Politik einseitig aufgekündigt worden.

Aber die Gewerkschaften kämpfen für ein Wirtschaftsmodell, das an erster Stelle den Menschen dient und nicht dem Kapital. Für uns ist Wirtschaft kein Selbstzweck. Deswegen akzeptieren wir nicht einfach die Ergebnisse sozial blinder Märkte. Eine Demokratie setzt sich gesellschaftspolitische Ziele. Für uns gilt der Vorrang der Politik. Wirtschaft und Wirtschaftspolitik sollen den Beschäftigten und ihren Familienangehörigen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Sie sollen für Vollbeschäftigung sorgen und eine bezahlbare soziale Absicherung der großen Lebensrisiken gewährleisten.

Dass dafür wirtschaftlicher Erfolg und entsprechende Gewinne notwendig sind, ist selbstverständlich. Dies steht aber nicht im Gegensatz zu einer sozialen und ökologischen Regulierung von Märkten. Im Gegenteil: Flächentarifverträge, Mindestlöhne und sozialversicherungspflichtige Arbeit verhindern reines Lohndumping. Sie zwingen die Unternehmen in den sozial verträglichen und ökonomisch erfolgreichen Wettbewerb um die innovativsten Produkte und Produktionstechniken.

Die steigenden Einkommensunterschiede akzeptieren wir nicht. Sie wurzeln in einer Machtverschiebung auf dem Arbeitsmarkt, die auch Folge sinkender Tarifbindung vor allem der Unternehmen ist. Das erleichterte den rasanten Zuwachs prekärer Beschäftigung. Das und die Massenarbeitslosigkeit haben den Lohndruck erhöht. Die Globalisierung verschärft die Standortkonkurrenz. Hinzu kommt ein erhöhter Renditedruck durch die Finanzmärkte. Die jüngsten Arbeitsmarktreformen taten ein Übriges. Ordnungspolitiker akzeptieren diese Entwicklung als ein naturgesetzliches Marktergebnis. Aber hier kann und muss die Politik durch Mindestlöhne und die Ausweitung sozial versicherter Arbeit Abhilfe schaffen. Darauf kann dann die Tarifpolitik aufbauen ähnlich wie beim Mindesturlaub.

Formelle Gleichheit schafft keine materielle Chancengleichheit. Ohne den umverteilenden Sozialstaat können die notwendigen öffentlichen Bildungsinvestitionen nicht finanziert werden. Ohne umverteilende Bildungs- und Sozialpolitik werden Herkunft und Bildungserfolg nicht entkoppelt. Wenn aber, wie beispielsweise in NRW, Studiengebühren eingeführt und Privatschulen massiv gefördert werden, dann wird der soziale Aufstieg zusätzlich erschwert.
Die sozialen Sicherungssysteme müssen reformiert werden - aber nicht so, wie es Arbeitgeber und marktkonservative Politiker und Ökonomen wollen. Denn eine Rückbesinnung auf Ludwig Erhard würde in die Sackgasse führen. Beitrags- und damit Arbeitskostensenkungen haben nämlich automatisch Leistungskürzungen zur Folge. Leider sind wir bereits auf dem gefährlichen Irrweg, die Finanzierung der großen Lebensrisiken zu privatisieren. Einen Suppenküchen- und Almosenstaat, wie er den Ordoliberalen und vielen Arbeitgebern vorschwebt, werden die Gewerkschaften aber niemals akzeptieren. Eine wirklich soziale Marktwirtschaft sichert die zentralen Lebensrisiken so ab, dass die Betroffenen eben nicht zum Sozialfall werden. Als eine Voraussetzung dafür muss die Finanzierungsbasis der Sozialversicherungssysteme durch Umwandlung in Bürgerversicherungen verbreitert werden.

Die politischen und wissenschaftlichen Epigonen Ludwig Erhards verkaufen dagegen ihre neoliberalen Konzepte als alternativlos. Sie verweisen auf den internationalen Druck durch die Globalisierung, der zur Anpassung der Entgelte und Sozialleistungen nach unten zwinge. Druck gibt es zweifelsfrei. Aber Tatsache ist: Gerade die im globalen Wettbewerb stehenden deutschen Wirtschaftszweige stehen prima da. Ihren Beschäftigten geht es noch relativ am Besten. Die Verlierer sind andere, vor allem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in vielen Dienstleistungsbereichen. Aber die Friseurin in Leipzig oder der Wachmann in Hamburg stehen nicht im internationalen Wettbewerb. Sie sind nicht das Opfer von Sachzwängen, sondern falscher politischer Weichenstellungen und unternehmerischer Gewinnmaximierung.
Der Weg aus der Krise führt nicht über Ludwig Erhard. Eine Renaissance der Ordnungspolitik würde nur den Wohlstand der Wenigen mehren und die Armut der Vielen vergrößern. Wir brauchen eine Politik, die korrigierend eingreift und die oben beschriebenen Missstände und Fehlentwicklungen beseitigt. Wir brauchen mehr Verteilungsgerechtigkeit und einen rascheren ökologischen Umbau - auch um die Akzeptanz unseres Wirtschaftssystems und der Demokratie zu erhöhen. Das alles ist nötig und es hat wenig bis nichts mit Erhards Sozialer Marktwirtschaft zu tun. Aber so finden wir den Weg zurück zu einer Marktwirtschaft, die den Menschen dient. Nur die ist wirklich sozial.