»Die Krise schlägt im Zentrum zu«

Über die Folgen der Finanzkrise, die Politik der Europäischen Zentralbank und die notwendige Re-Regulierung der Märkte. Ein Gespräch mit Mario Candeias

05.05.2008 / Die Politik muß darauf reagieren. Die Krise bringt die Frage nach der Rolle des Staates zurück in die Debatte. »Ich glaube nicht mehr an die Selbstheilungskräfte des Marktes«, erklärte Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und ruft nach einer konzertie

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Mario Candeias, promovierter Politikwissenschaftler, ist Referent für Kapitalismuskritik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Wie schwer ist die aktuelle Finanzkrise einzuschätzen?

Während der Internationale Währungsfonds (IWF) und US-amerikanische Starökonomen die größte Krise seit 1929 diagnostizieren, versuchen die Europäische Zentralbank (EZB) und die Bundesregierung noch immer, die Folgen der Finanzkrise kleinzureden. Doch läßt sich kaum noch bestreiten, daß sich diese global ausweitet und auf die sogenannte Realwirtschaft durchschlagen wird. Anders als noch bei der »Asien-Krise« oder der »Argentinien-Krise« gelingt es immer weniger, die Folgen finanzieller Instabilitäten mit flexiblem Krisenmanagement zu begrenzen oder auf periphere Märkte auszulagern – die Krise schlägt im Zentrum des globalen Finanzmarktkapitalismus zu, in den USA. Diskutiert wird nicht, ob, sondern wie tief die Rezession in den USA werden wird.

Was bedeutet das für die Bundesrepublik?

Abgesehen von den heftigen Verlusten im Bankensektor, die allerdings verglichen mit anderen Ländern noch moderat ausfallen, ist Deutschland eher indirekt betroffen. Die Konjunktur ist bislang erstaunlich robust, insbesondere durch den weiterhin starken Export. Das liegt vor allem an der hierzulande jahrzehntelang praktizierten Lohnzurückhaltung, während überall sonst die Lohnstückkosten stiegen. Im Grunde genommen beruht der deutsche Exporterfolg auf Lohndumping – im Niedriglohnsektor haben wir US-Niveau erreicht. Der Konsum spielt als konjunkturelle Stütze daher kaum eine Rolle, ganz anders als in den USA. Nun allerdings wird auch der Export geschwächt. Die wichtigste Exportbranche, der Maschinenbau, rechnet nach dem Rekordplus von elf Prozent im vergangenen in diesem Jahr nur noch mit einem Wachstum von fünf Prozent. Zusätzlich drückt der steigende Kurs des Euro auf die Konkurrenzfähigkeit deutscher Produkte. Die Exporte in den Dollar-Raum waren bereits 2007 rückläufig, dieser Trend dürfte sich beschleunigen.

Sind die USA, im Vergleich zu China oder den anderen Boomländern, für die deutsche Ökonomie überhaupt noch so wichtig?

Der größte Teil der deutschen Exporte, über 75 Prozent, geht in europäische Länder, davon fast 65 Prozent in EU-Länder. Dort besteht kein Wechselkursproblem zum US-Dollar. Nach Frankreich sind die USA allerdings nach wie vor der zweitgrößte Exportmarkt für deutsche Unternehmen, obwohl ihr Anteil auf etwa 7,6 Prozent gefallen ist (Dollarraum insgesamt etwa zehn Prozent).

Unkalkulierbar sind vor allem die indirekten Folgen einer US-Rezession. Wenn dieser »globale Konsument« mit einem Weltimport-Anteil von 16,5 Prozent krisenbedingt ausfällt, wird auch die Dynamik bei wichtigen Handelspartnern wie China und Indien beeinträchtigt. China hat bereits selbst mit einer Immobilien- und Kreditblase zu kämpfen. Die Kombination aus sinkender globaler Nachfrage, Dollar-Verfall und Euro-Aufwertung bei gleichzeitig steigenden Öl- und Rohstoffpreisen hat auch für den Euro-Raum negative Folgen. Seit Monaten werden die Konjunkturaussichten ein ums andere Mal nach unten korrigiert. Bei Einbrüchen in den USA, Asien und der EU bräche auch der Export als wichtigste bundesdeutsche Konjunkturstütze ein.

Ist das bereits die Krise des Finanzmarktkapitalismus?

Angesichts der nach wie vor robusten Produktion ist zu fragen, ob das Konzept eines finanzmarktdominierten Kapitalismus eigentlich zutrifft. Jedenfalls kann noch nicht von einer Funktionskrise ausgegangen werden. Trotz periodischer Instabilitäten konnten in den letzten 30 Jahren systemgefährdende Folgen vermieden werden. Während die Verluste aus den Krisen in der Regel sozialisiert werden, werden sie von mächtigen Finanzmarktakteuren genutzt, um geschwächte Konkurrenten oder die Anteile wichtiger Unternehmen und Branchen günstig zu erwerben und auf weitere »Liberalisierungen« zu drängen. Zudem dient die Vernichtung überakkumulierten Kapitals immer auch der Wiederherstellung profitabler Verwertungsbedingungen. Wichtiger erscheint mir allerdings die bröckelnde Legitimation der »Liberalisierung« der Finanzmärkte. Nach jüngsten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts GlobeScan befürworten weltweit Mehrheiten eine »starke staatliche Regulierung«, in Deutschland 62, in den USA immerhin 57 Prozent. Ohnehin glaubt eine wachsende Mehrheit, die Gesellschaft sei ungerecht. Auch Zweifel an der Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem nehmen deutlich zu: Bei uns sind es 30 Prozent, die dies so sehen, in Frankreich bereits über 50 Prozent.

Inwiefern ist das von Bedeutung?

Die Politik muß darauf reagieren. Die Krise bringt die Frage nach der Rolle des Staates zurück in die Debatte. »Ich glaube nicht mehr an die Selbstheilungskräfte des Marktes«, erklärte Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und ruft nach einer konzertierten Aktion von Staat und Wirtschaft. Starökonom Nouriel Roubini fordert sogar zur Verstaatlichung der Banken auf. Die amerikanische Zentralbank Fed organisiert die größte Reform der Finanzmarktkontrolle seit 1945. Die US-Regierung legt milliardenschwere Konjunkturprogramme auf. Fast könnten wir von einer Art »neuem Staats­interventionismus« sprechen. Sicher ist noch nicht von einem Paradigmenwechsel auszugehen, aber Institutionen wie der IWF drängen zumindest in Ansätzen auf eine Re-Regulierung der Märkte.

In Europa scheint dies noch nicht angekommen zu sein.

Ja, in Europa gibt man sich da zum Teil orthodoxer als in den USA. Insbesondere die EZB, aber auch die Bundesregierung sperren sich: Eine steigende Inflation verunmögliche Zinssenkungen, Konjunkturprogramme gefährdeten die Haushaltskonsolidierung. Auch vor überzogenen Lohnerhöhungen warnen die Zentralbanker – sie beförderten nur die Inflation. Eine Senkung der Zinsen etwa wird abgelehnt, denn anders als die Fed ist die EZB nicht auf Wahrung von Wachstumschancen verpflichtet, sondern allein auf Beschränkung von Inflationsrisiken. Also tun wir nichts und warten, daß der Sturm vorbeiziehen möge. Das Problem wird verschoben: Bundesregierung und Europäische Kommission fordern von den USA ernsthafte Schritte zur Stabilisierung des Dollarkurses – also Zins­erhöhungen mitten in der Krise. Das wäre der sichere Weg in eine globale Rezession.

Aber die Inflation steigt doch tatsächlich.

Ja, hier zeigt sich, daß die Globalisierung der Märkte sich nicht immer günstig auf die Preisentwicklung auswirkt. Denn die Inflation ist vor allem auf die Verteuerung von Öl und Nahrungsmitteln zurückzuführen. Allein das Öl verteuerte sich in den letzten zehn Jahren von 10 auf fast 120 Dollar pro Faß (159 Liter). Die Steigerungen der Weltmarktpreise für Weizen, Mais und Reis wiederum führten in anderen Teilen der Welt sogar zu Hungerrevolten. Diese Preise werden auf internationalen Märkten ermittelt und auch durch spekulative Aktivitäten beeinflußt – nicht zuletzt, weil im Zuge der Finanzkrise liquides Kapital nach neuen Anlagemöglichkeiten sucht. Diese Preisentwicklungen sind auch durch hohe Zinsen von seiten der EZB nicht zu beeinflussen. Entweder sind die externen Faktoren aus der offi­ziellen Inflationsrate herauszurechnen, was etwa 1,6 Prozent weniger entspräche, oder die EZB rückt von ihrem willkürlich festgesetzten Inflationsziel von zwei Prozent ab. Das käme auch anderen, schwächelnden Ökonomien wie Spanien, den Niederlanden oder Italien entgegen. Da in Deutschland trotz verbesserter Tarifabschlüsse die durchschnittlichen Reallöhne kaum steigen und der Konsum mit geschätzten 0,4 Prozent nach wie vor unterdurchschnittlich zum Wachstum beiträgt, gibt es eigentlich auch bei uns keine Inflationsrisiken.

Was ist zu tun?

Es wird Zeit, der monetaristischen Privatisierung der Geldpolitik durch die EZB ein Ende zu bereiten und ihr ein politisches Gegengewicht zur Seite zu stellen, wie IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn fordert. Die Geldpolitik muß von ihrer einseitigen Fixierung auf Inflationsbekämpfung gelöst und demokratisch bestimmt werden. Dies wäre nur ein erster Schritt zur Re-Regulierung der Finanzmärkte, allerdings kein »Sand im Getriebe«, sondern vielmehr »Schmieröl« im Hightech-Motor des globalen Kapitalismus und Garant einer immerhin etwas weniger krisenanfälligen Akkumulation.

Genügt das denn?

Nein. Darüber hinaus geht es um eine wirkliche Repolitisierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Hierzu gibt es zahlreiche, auch weitreichende Vorschläge: Sie reichen von der Beendigung weiterer Liberalisierungsvorhaben etwa im EU-Rahmen, der Verschärfung und Deprivatisierung von Banken- und Finanzkontrollen, der Schließung von Steuerparadiesen und off-shore-Zentren oder der Einführung von Börsenumsatzsteuern und Kapitalverkehrskontrollen bis zu Konzepten für zukunftsorientierte Konjunktur- und Investitionsprogramme oder ein neues UN-basiertes Bretton-Woods-Abkommen, das Kapital- und Technologietransfers, einen Ausgleich der Leistungsbilanzen, nachhaltige Entwicklung sowie soziale und politische Mindeststandards global gewährleistet.