Rente: Erwerbszentrierung – ja oder nein?

Zu Katja Kippings Thesen zum Umbau des Sozialstaats

04.05.2008 / Horst Arenz, Sozialismus 5-08 (ungekürzte Fassung)

Im Zentrum von Katja Kippings Überlegungen stehen die Probleme der Altersarmut und der Linderung der Existenzprobleme der von Arbeit Ausgeschlossenen. Sie plädiert als Generallösung für eine Garantierente und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Im Fokus beider Konzepte stehen zwei Kernfragen: die Verlagerung der Finanzierung sozialer Sicherheit von der Erwerbstätigkeit auf das Steueraufkommen und der Wegfall der Bedarfsprüfung.

Kipping nimmt die aktuelle Zuspitzung der öffentlichen Auseinandersetzung um die Zukunft der Altersicherung zum Anlass, ihre Auffassungen zu präzisieren. Sie greift damit in die Debatte um eine der Schlüsselfragen der aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzung ein, die nicht ohne Grund von der Partei DIE LINKE zum zentralen Schwerpunkt ihre Kampagnen bis zur Bundestagswahl erklärt worden ist.

Gegenüber früheren Beiträgen markieren Kippings jüngste Positionsbestimmungen eine wichtige Veränderung. Ging es ihr bislang um einen grundsätzlichen Umbau der gesetzlichen Sozialversicherung weg von der »Lohnzentriertheit«1, »von der arbeitszentrierten linken Politik«2, so plädiert sie nun u.a. für die Stärkung der Einnahmebasis der – bekanntlich lohnzentrierten – gesetzlichen Rentenversicherung. »Um die GRV langfristig zu stärken, ist eine Erweiterung ihrer Einnahmebasis notwendig. Wir brauchen eine Rentenversicherung, in die alle einzahlen – auch Anwälte, Ärzte, Abgeordnete und Unternehmer. «3 Gleichzeitig hält Kipping an ihrer grundsätzlichen Ablehnung der Erwerbszentrierung der sozialen Sicherungssysteme fest.

Daraus ergeben sich Widersprüche und offene Fragen. Zudem geht Kipping auf einige Kernargumente4 der Diskussion nicht ein.

    • Kipping beschäftigt sich in der Auseinandersetzung mit ihren KritikerInnen nur mit der Rente. Ihre Vorschläge für eine Reform des Rentensystems reihen sich allerdings ein in eine Gesamtkonzeption, die letztlich fokussiert ist auf zwei Grundvorstellungen: die Aufgabe des Vollbeschäftigungsziels bzw. seiner Verschiebung in die ferne Zukunft (»irgendwann in der Zukunft«)5 sowie der Infragestellung der Überlebensfähigkeit der »traditionellen«, weil beitragsfinanzierten Rente. Dem zu Grunde liegt eine prinzipielle Skepsis bzgl. der Zukunftsaussichten der Erwerbsarbeit und der Reformierbarkeit der GRV. Die Möglichkeiten der Wiederherstellung von Vollbeschäftigung, der Schaffung von „Guter Arbeit“ und einer substantiellen Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) werden als in hohem Maße unrealistisch eingeschätzt.
      Eine Distanzierung von ihrer Kernthese, der Notwendigkeit der Entkopplung der sozialen Sicherungssysteme von der Erwerbsarbeit, sucht man vergebens.6

    • Kipping plädiert zwar jetzt abstrakt dafür, die GRV zu »reformieren« bzw. sogar zu »stärken« – begründet aber dabei aber ihre Zweifel an der Wirksamkeit der bisherigen Reformvorschläge der LINKEN für den Abbau der Altersarmut nicht. Umso nachdrücklicher argumentiert Kipping für die Garantierente und gegen die »traditionelle GRV«7. Auch der Kampf der Belegschaften, der Gewerkschaften und der LINKEN für bessere Arbeitsbedingungen und für einen höheren Anteil an den Primäreinkommen bleiben bei Kipping außen vor. Der unbestreitbare deutliche Rückgang der Normalarbeitsverhältnisse hat für Kipping auch positive Aspekte, weil er von der grundsätzlich repressiven Erwerbsarbeit befreit.

    • Der von Kipping geforderte Wegfall der Bedürftigkeitsprüfung und die Ablehnung von zumutbarer Arbeit – zumutbar im Verständnis der LINKEN – ist ein Kernpunkt des Streits sowohl um die Garantierente als auch um das bedingungslose Grundeinkommen8 ist. Dass die Forderung, Josef Ackermann oder Michael Schumacher die gleiche Garantierente zu zahlen wie der Aldi-Verkäuferin, von dieser nur als skandalös aufgefasst werden kann, dass also mit der immer krasser werdenden Spaltung in Arm und Reich die Frage des Bedarfs von hoher Bedeutung für das Alltagsbewusstsein und für das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen ist, wird bei Kipping nicht thematisiert.
    • Auch die Forderung, »alle bestehenden Steuerfinanzierungen innerhalb der GRV und der Grundsicherung im Alter (…) unbürokratisch zusammenzufassen zu einem Grundsockel in der Rente« (Kipping, Statt Planierraupe …) hat problematische Implikationen: den Entzug von über 30% der Einnahmen aus der GRV. Dies steht im Widerspruch zu der von Kipping geforderten Stärkung der GRV und hat zwangsläufig negative Folgen für die Bezüge der großen Masse der Rentner/-innen und die Beitragsentwicklung der Beschäftigten.
    • Die geforderte drastische Ausweitung der Steuerfinanzierung der Sozialversicherungen hat zudem – wegen des Wegfalls der paritätischen Finanzierung – nicht nur eine Entlastung der Unternehmen zur Folge hat, sondern geht auch zu Lasten des Großteils der Bevölkerung, weil der Anteil der Einkommensteuer ständig abnimmt und der der Massensteuern (Mehrwert-, Mineralölsteuer etc.) den ganz überwiegenden Teil des Steueraufkommens ausmacht.
    • Kipping greift auch nicht die Einwände zu den Folgen ihrer Forderung auf, dass bei der Garantierente »betriebliche und private Vorsorge fürs Alter grundsätzlich nicht angetastet (werden)«, während »die gesetzliche Rente entweder voll oder nur zu einem bestimmten Teil … gegen die Grundrente aufgerechnet (wird)« (Kipping, Altersarmut …). Damit würde der Trend weg von der GRV hin zur privaten Vorsorge befördert, was ein zentrales Feld der politischen Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus berührt.
    • Strittig sind auch die von Kipping angeführten Thesen von André Gorz u.a. vom Ende der Arbeit durch die Ausbreitung der immateriellen Arbeit, sprich der »Wissensgesellschaft«. Aus der unbestreitbaren Schrumpfung des Anteils der materiellen Produktion wird die Perspektivlosigkeit der Lohnarbeit insgesamt abgeleitet9. Der Kern der Debatte dreht sich um den Arbeitsbegriff, der von Kipping mit Zitaten aus den Frühschriften von Marx und einigen Passagen aus den »Theorien über den Mehrwert« untersetzt wird. Kipping unterläuft dabei ein grundsätzliches Missverständnis des Marxschen Arbeitsbegriffs. Für Marx ist Arbeit in jeder Gesellschaftsformation eine Naturnotwendigkeit, die mit der Befreiung vom Kapitalverhältnis sich sogar noch ausdehnt. Nach Marx ist die materielle Produktion stets, d.h. auch in zukünftigen Gesellschaftsformationen, die Basis der immateriellen Arbeit, zwischen beiden – der materiellen und der immateriellen Arbeit – besteht ein Verhältnis der Wechselwirkung, in dem sich auch emanzipatorische Momente im Arbeitsprozess selbst entwickeln können. Mit dieser seit Längerem formulierten Kritik setzt sich Kipping nicht auseinander. »Zivilisierung durch Arbeit und Fleiß« (Kocka) scheint unbekannt zu sein. Stattdessen wird die Nicht-Arbeit, sprich die Freizeit, zum Springquell aller Emanzipation erklärt.10

      Dass die aus dieser Grundauffassung abgeleitete Forderung nach bedingungslosem Grundeinkommen und Garantierente bei Verweigerung angemessener Arbeitsangebote, im Klartext für das Leben auf Kosten Anderer, sprich der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung und Beitrags- und Steuerzahler/-innen, von diesen nur als Verstoß gegen elementare Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit aufgefasst werden kann, bleibt bei Kipping ausgeblendet. Wer außer Betracht lässt, wie solche Positionen mit dem Alltagsbewusstsein der großen Masse der Bevölkerung vermittelbar sind, unterschätzt eine Kernanforderung an linke Politik, nämlich die Vermittlung ihrer Konzepte mit grundlegenden Wertorientierungen breiter Teile der Bevölkerung.

Die Stärkung der Erwerbszentrierung der sozialen Sicherungssysteme und damit der Abbau der Massenarbeitslosigkeit ist eine Schlüsselfrage der aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzung, an der sich die Zukunft der linken Kräfte in Deutschland mitentscheidet. Die jüngsten Fälle von Massenentlastungen, die Exklusion breiter Teile der Bevölkerung vom »Aufschwung«, die Skandale bei Lidl und Aldi, die öffentliche Aufregung über die Wirkungen der Riesterrente und zur Zwei-Klassen-Medizin in den Arztpraxen verdeutlichen, worum es beim Kampf um die Köpfe in nächster Zeit geht. Partei und Bundestagsfraktion DIE LINKE haben sich zu recht zur Aufgabe gemacht, die Frage der Alterssicherung und der »Guten Arbeit« zu einem Schwerpunkt der Arbeit in den kommenden zwei Jahren zu machen. Dies wird kein Zuckerschlecken, wenn man auf die Probleme bei der Mindestlohn-Kampagne blickt. Wie die Thesen der stellv. Parteivorsitzenden und sozialpolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion, die mit großer Mehrheit von der Bundestagsfraktion abgelehnt wurden, diese Kampagnen unterstützen sollen, bleibt offen.

Unbestritten ist, dass es dabei nicht um eine schlichte Neuauflage des alten Sozialstaats gehen kann. Finanzmarktkapitalismus, die zunehmende Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche mit den Renditeanforderungen der Finanzmärkte, Prekarisierung und ihr Druck auf die Normalarbeit, der Abbau sozialer Inklusion und der Verfall von Sozialkapital, die Entwicklung von Individualität und ihre Rückwirkung aus dem Bereich der Nicht-Arbeit auf die Arbeitswelt, neue Ansprüche an Selbstorganisation quer zu sozialstaatlicher Bevormundung sowie die Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen verbieten eine Kopie von Politikmodellen der 1970er Jahre. Unbestritten ist auch, dass die drastische Zunahme der Zahl der vom gesellschaftlichen Leben und von der Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen eine Ausweitung der Finanzierungsgrundlagen über die paritätische Finanzierung hinaus erforderlich macht.

Die Finanzierungsfragen, die sich mit der Vermeidung von Altersarmut stellen, sind mit Kippings Vorschlag der Einbeziehung von Anwälten, Beamten und Selbständigen nicht gelöst, weil aus der Beitragspflicht auch neue Ansprüche erwachsen. Die aktuelle Debatte hierzu dreht sich – abgesehen von zusätzlicher Steuerfinanzierung über Einkommen-, Vermögen- und Erbschaftsteuer (s. hierzu weiter oben) – auf der GRV-immanenten Ebene um die Frage der politischen und verfassungsmäßigen Spielräume für die Durchbrechung der Äquivalenz zwischen Beitrag und ausgezahlter Rente. Während – in Anlehnung an die erste Säule des Schweizer Systems der Altersversorgung - die Arbeitnehmer-Organisation der SPD AfA auf ihrem jüngsten Bundeskongress für die Finanzierung höherer Mindestrenten durch die Kappung hoher Rentenleistungen plädiert, gehen andere Vorstellungen (z.B. des Sozialverband Deutschland SoVD) in Richtung höherer Mindestentgeltpunkte für niedrige Renten.11 Auch der Rüttgers-Vorschlag hat den Vorzug, innerhalb der Beitrags- (und damit Erwerbsarbeits- und paritätischen Finanzierung) zu bleiben, will aber an den Dämpfungsfaktoren, die zur zukünftigen Altersarmut wesentlich beitragen, nicht rütteln und bleibt daher unglaubwürdig. Diese Debatte wird in nächster Zukunft alle Parteien intensiv beschäftigen.

Kipping sucht mit ihrer Kritik an den tradierten Sozialversicherungen eine Antwort auf diese Herausforderungen. Mit der Fokussierung auf Prekarität und immaterielle Arbeit ist das Problemspektrum jedoch nur unzureichend markiert. Aus grundsätzlicher Sicht muss für die Linke unstrittig sein, das sich die Lösung aller offenen Fragen nur um eine zentrale Achse drehen kann: die Wiedereinsetzung der gesellschaftlichen Arbeit in ihre Schlüsselstellung.12 Es bleibt die Aufforderung (und die Hoffnung), »ernsthaft zu diskutieren«, d.h. die Debatte über die Kernpunkte des Streits zu intensivieren.

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1 Kipping, Und weil der Mensch ein Mensch ist – zur Debatte um die soziale Grundsicherung, Positionspapier 2005

2 Grundeinkommen, Grundsicherung – Streitgespräch zwischen Katja Kipping und Harald Werner, in: Disput 4-06

3 Kipping, Altersarmut vorprogrammiert – zugleich das Plädoyer für eine Garantierente, in: Sozialismus 3/08; siehe auch Kippings Beitrag: Statt Planierraupe spielen: Ernsthaft diskutieren! in: www.sozialismus.de, in dem sie sogar vom notwendigen Umbau der GRV in eine »Erwerbstätigenversicherung« spricht.

4 aktuell: Klaus Ernst, Michael Schlecht, Gefahren für die Rente – Katja Kippings Angriff auf die gesetzliche Sozialversicherung, in: Sozialismus Heft 4/2008; siehe u.a. auch Joachim Bischoff/Julia Müller, Nische Grundeinkommen oder Aufhebung der Entfremdung, in: Sozialismus Heft 10/2005; Ulrich Busch, Schlaraffenland - eine linke Utopie? In: UTOPIE kreativ Heft 181, 2005, S. 978 ff.

5 Kipping, Statt Planierraupe spielen: Ernsthaft diskutieren! in: www.sozialismus.de. Für Kipping ist »die Vollbeschäftigungsforderung eine Forderung der Arbeitskulturideologie« (Kipping/Blaschke, »Und es geht doch um …« – das Gespenst des Grundeinkommens, in: Sozialismus 10/2005

6 vgl. Kipping/Blaschke, a.a.O.: „Grundsicherungen und Grundeinkommen sind steuerfinanzierte Leistungen, deren Anspruchsberechtigung und deren Höhe von einer vorher geleisteten sozialversicherungspflichtigen Erwerbsarbeit entkoppelt sind.«

7 »Die traditionelle GRV gibt allerdings auf ein großes Problem keine Antwort: auf die drohende Altersarmut der vielen Menschen mit brüchigen Erwerbsbiografien und geringen Einkommen.« (Statt Planierraupe …)

8 »Ein Grundeinkommen dagegen steht allen Menschen ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne (Erwerbs-)Arbeitszwang … zu.« (Kipping/Blaschke, a.a.O.). Siehe auch Kipping, Von Schweden lernen – Diskussionspapier zu den rentenpolitischen Alternativen der LINKEN, März 2008: »Ich finde die Logik dieser Bedarfsprüfung falsch und abschaffungswert. Leider hat sich die Bundestagsfraktion mehrheitlich für das Prinzip der Bedarfsprüfung ausgesprochen.«

9 »Die für Lohnarbeit typische Trennung von Arbeit(szeit) und Leben(szeit) ist für die wissensbasierte Arbeit unhaltbar… Die materielle Arbeit an einem Fließband ist noch klar mit der Stechuhr zu messen. Allerdings ist es schwer, bei immaterieller Arbeit die genaue Arbeitszeit zu messen. Damit bricht die auf Tauschwert beruhende Ökonomie zusammen… Dieser klare Tauschwert war bestimmend für das klassische Arbeitsverhältnis.« (Kipping, Altersarmut vorprogrammiert…

10 »Ein Grundeinkommen befördert die immense Ausweitung der Autonomie der Menschen, der free time und der free activity … Ein Grundeinkommen ist die Basis der wahren Reichtumsvermehrung, der Entwicklung der freien Individualität und natürlich (!-H.A.) der Demokratisierung der Arbeits- und Lebenswelt.« (Kipping/Blaschke, a.a.O.)

11 Die Linksfraktion tritt eine Verbindung von Mindestentgeltpunkten und Abschmelzung hoher Renten ein.

12 Die Forderung nach „Entkopplung vom Faktor Arbeit“ der sozialen Sicherungssysteme wird auch von anderen Strömungen in der Partei DIE LINKE unterstützt (s. Lay, Nitz, Liebich, „Freiheit und Sozialismus - Vorschlag des Forum Demokratischer Sozialismus für DIE LINKE Programmdebatte“, 2008)


weitere Informationen zur rentenpolitischen Debatte unter Dossiers: Rente

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